Gemeinsinn

…und wo er leider fehlt

Von Friedbert W. Böhm

Er ist uns nicht in die Wiege gelegt. Zwar besitzen wir einige Anlagen dafür: wie viele andere Lebewesen betreiben wir Brutpflege, lieben also unseren Nachwuchs, in Grenzen auch unsere Eltern und anderen Verwandten, die einige unserer Gene tragen. Darüber hinaus hat uns als Großhirner die Evolution befähigt, Freunde sowie für gemeinsame Vorhaben Verbündete zu gewinnen, Genossen, Partner, Komplizen.

Das alles ist aber erweiterter Egoismus und hat mit Gemeinsinn wenig zu tun.

Gemeinsinn ist die Erweiterung der Verantwortlichkeit über den Kreis der Verwandten, Freunde und gerade nützlichen Mitstreiter hinaus. Er ist nicht angeboren. Er muss erdacht, erlernt, erlebt werden. Bestenfalls ist er Ergebnis generationenlanger Übung, der Tradition. Schlimmstenfalls wird er von autoritären Führern künstlich erzeugt. Nicht von ungefähr pflegen diese ihre Untergebenen mit “Brüder und Schwestern” oder gar “meine Kinder” anzusprechen und lassen sich von ihnen gern als “Vater” oder “Mutter” der Organisation, Bewegung, Nation titulieren.

In kleinteilig besiedelten Regionen hat sich Gemeinsinn auf natürliche und nahezu unvermeidliche Weise herausgebildet. Wer mit anderen 20 oder 30 Familien in einem abgelegenen Dorf wohnte, womöglich noch unter harschen klimatischen Verhältnissen, der kam nicht darum herum, bei all seinen Entscheidungen das Interesse der Nachbarn zu berücksichtigen, auch derjenigen, die er nicht als Freunde empfand. Er konnte seinen bissigen Hund nicht frei herumlaufen lassen noch seinen Unrat auf der Straße entsorgen. Er musste bereit sein, von seinen gerade üppigen Vorräten an Andere abzugeben, die der Hagel betroffen oder der Wolf besucht hatte. Und wenn er dies nicht freiwillig tat, dürfte der Schulze oder der Ältestenrat ihn dazu genötigt haben. Und spätestens, nachdem er selbst dank des Gemeinsinns seiner Nachbarn aus einer Notlage befreit worden war, wird er überzeugt gewesen sein und auch seinen Kindern beigebracht haben, dass Gemeinsinn eine gute und notwendige Sache ist. So entstand eine Tradition. Die Tradition des Gemeinsinns war der Keimling der Demokratie.

Nicht überall konnte Gemeinsinn wie im Dorf sich entwickeln oder überleben. An Orten, wo sehr viele Menschen auf engem Raum zusammenlebten, an den fruchtbaren Deltas großer Flüsse etwa, wo nach Erfindung des Ackerbaus die Städte der ersten Hochkulturen entstanden waren, kannte man sich nicht mehr persönlich. “Wieso eigentlich”, sagte sich der Bäcker vom Berghang, und er sagte es seinen Kindern, “soll ich für Leute Opfer bringen, denen weit dort unten am Fluss das Krokodil die Netze zerfetzt hat? Schließlich haben die mir nie einen Fisch geschenkt.”

Die weitgehend natürliche Ordnung, welche der Gemeinsinn im Dorf herstellt, muss in der arbeitsteiligen Massengesellschaft künstlich erzeugt werden: Eine mehr oder weniger wohlwollende Autorität erlässt mehr oder weniger gerechte Gesetze, welche von der Gemeinschaft mehr oder weniger willig entgegengenommen und befolgt werden. Je größer der in einer solchen Gemeinschaft (noch) herrschende Gemeinsinn ist, desto mehr Aussicht haben gute Gesetze, befolgt, und weniger gute, abgewiesen zu werden. Ist der Gemeinsinn jedoch schwach oder verloren, sind Gesetze nur durch drakonische Strafen durchsetzbar und deren schlechte beginnen unverzüglich, die guten zu verdrängen.

In ehemaligen spanischen Kolonien ist Gemeinsinn Mangelware. Der dort in manchen Kulturvölkern ursprünglich gewiss existierende wurde von den Eroberern mit den Kulturen zerstört. Familien aus spanischen Soldaten oder Strafgefangenen und Indianerweibern konnten keine zivilisatorischen Traditionen begründen, schon gar nicht, wenn sie unter der Fuchtel eines Großgrundbesitzers auf einer Plantage oder einem einsamen Gehöft hausten. Dörfer, wo man sich aneinander gewöhnen und sich gegenseitig erziehen hätte können, gab es nicht. Und das Leben in den Städten war von Beginn an durch am grünen Tisch in Sevilla erdachte, häufig absolut unrealistische Regeln bestimmt, auf welche die lokalen Nachbarschaften überhaupt keinen Einfluss hatten.

Nach der “Befreiung” der Kolonien wurde der imperiale Autoritarismus von den Caudillos übernommen, welche ihn später den mehr oder weniger frei gewählten Regierungen vererbten. Gemeinsinn kommt von unten. Wie bereits ausgeführt, verträgt er sich schlecht mit Autoritarismus. Und er kommt von innen. Insofern konnte sich die Hoffnung einiger früher Patrioten nicht erfüllen, Gemeinsinn möge sich – wie manch andere Tugenden – dank forcierter europäischer Einwanderung ergeben. Einwanderer pflegen ihre guten Traditionen – falls sie solche überhaupt besitzen – sehr schnell zu verlieren, wenn sie feststellen, dass diese in der neuen Heimat unüblich sind und dem eigenen Wohl abträglich sein können. Solche Traditionen haben sich nur in sehr wenigen Orten erhalten, welche von homogenen Einwanderergruppen gegründet wurden und relativ abgeschieden blieben. Ohne gemeinsame Entscheidungsfindung kann Gemeinsinn nicht existieren.

Die Abwesenheit von Gemeinsinn bedeutet Unordnung und ständigen Streit. Sie fördert den Korporativismus. Wenn der Bürger sich in der großen allgemeinen Gesellschaft nicht vertreten und berücksichtigt fühlt, sucht er Unterschlupf in einer kleinen, besonderen. Bestenfalls ist das sein Kirchsprengel, seine Firma, seine Gewerkschaft oder sein Verein und schlimmstenfalls eine Sekte oder Bande. Diese kleinen Gesellschaften müssen sich, um ihre Identität zu wahren, ständig von anderen abgrenzen und jene bekämpfen. Unter solchen Umständen kann ein geordneter Staat nicht existieren.

Ein Schulbeispiel für falsch verstandenen Gemeinsinn ist die Mafia. Wenn in einer Nation Gemeinsinn fehlt, können sich politische Parteien und staatliche Institutionen in mafiaähnliche Organisationen verwandeln.

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