Spekulieren bis zur letzten Minute
Die Weltkunstausstellung dOCUMENTA (13) in Kassel wirft ihre Schatten voraus
Von Nicole Büsing und Heiko Klaas
Eine Frage geistert bereits seit Monaten durch den internationalen Kunstbetrieb: Welche Namen enthält die Künstlerliste der dOCUMENTA (13)? Wer da versucht nachzubohren, stößt auf eisernes Schweigen seitens der Documenta-Leitung. “Die Künstlerliste wird erst am 6. Juni, dem Tag der Pressekonferenz, bekanntgegeben”, sagt Henriette Gallus, die Pressesprecherin. Auch wenn manche Galeristen, Sammler und Kritiker den einen oder anderen heißen Tipp haben: Mehr als ein augenzwinkerndes “Vielleicht” ist Carolyn Christov-Bakargiev, der Künstlerischen Leiterin und ihrem Team, nicht zu entlocken. Zwar lässt sie gelegentlich einige Namen im Rahmen ihrer Vorträge fallen. Doch die für ihre Ironie und ihren hintergründigen Witz bekannte, 1957 geborene US-Amerikanerin mit bulgarisch-italienischen Wurzeln gibt zu Bedenken, sie lege auch gerne falsche Fährten. Christov-Bakargiev hat dafür durchaus nachvollziehbare Gründe. Sie möchte, dass “ihre” Künstler, darunter viele noch unbekannte, sich ganz auf die Erarbeitung und Produktion ihrer Documenta-Projekte konzentrieren können – ohne bereits jetzt schon ins mitunter gnadenlose Räderwerk des Kunstmarktes zu gelangen.
Wer sich in die Gedankenwelt der nächsten Documenta einlesen möchte, sollte vielleicht das ein oder andere Exemplar der im Hatje Cantz Verlag erscheinenden Schriftenreihe “100 Notizen – 100 Gedanken” konsultieren. Seit März 2011 sind bereits 55 Titel erschienen. Die restlichen 45 Hefte folgen in den nächsten Wochen und Monaten. In diesen intellektuell-feinsinnigen Heften äußern sich Künstler, Wissenschaftler, Philosophen und andere Autoren zu Fragen unserer Zeit. Die Documenta versteht auch die Autoren dieser für die Ausstellung zentralen Essay- und Faksimile-Reihe als Teilnehmer der Weltkunstschau.
Insgesamt hat Frau Christov-Bakargiev rund 160 Künstler eingeladen. Anders als bei vorherigen Documenta-Ausstellungen wird es wohl keine neu geschaffenen Orte geben, an denen die Kunst präsentiert wird. Eine provisorische Pavillonarchitektur auf der Karlsaue wie bei der Documenta 12 vor fünf Jahren ist jedenfalls nicht geplant. Carolyn Christov-Bakargiev denkt da durchaus ökologisch. Die Karlsaue, der zweitgrößte Park Kassels, wird wieder ein zentraler Ort der Documenta werden. Hier plant Christov-Bakargiev, soviel hat sie bereits zwischen den Zeilen verraten, die Installation zahlreicher Arbeiten. Eine steht bereits seit Juni 2010 dort: “Idee di Pietra” (Ansichten eines Steins), ein neun Meter hoher Bronzebaum des 1947 geborenen italienischen Arte-Povera-Vertreters Guiseppe Penone, mit einem Granit-Findling in der Astkrone.
Wie bei allen Documenta-Ausgaben wird das Museum Fridericianum wieder Hauptausstellungsort werden. Auch das in den 1950er Jahren errichtete Gloria-Kino wurde bereits als Schauplatz der dOCUMENTA (13) bestätigt. Über weitere Kinos, ein ehemaliges Fitnesscenter, ein Hotel und ein weitverzweigtes, unterirdisches Stollensystem wird zumindest spekuliert.
Rund 15 sogenannte Agenten unterstützen Carolyn Christov-Bakargiev bei der inhaltlichen Arbeit. Das ist ein internationales Team, das auf der ganzen Welt verteilt sitzt. In Anlehnung an den Begriff “Agency” erfüllen die Agenten unterschiedliche Funktionen: Sie besuchen Künstler, schreiben Katalogtexte, geben inhaltlichen Input. Aber auch in Kassel selbst wird schon kräftig gearbeitet. Rund 100 Personen umfasst zur Zeit das fast täglich wachsende Team.
Die meisten Arbeiten für die dOCUMENTA (13) werden neu entstehen. Ein überwiegend junges Team aus kuratorischen Assistenten, Architekten und Aufbauhelfern unterstützt die Künstler dabei. Auch während der 100 Tage Ausstellungsdauer bietet die dOCUMENTA (13) ein dichtes Programm mit Performances, Vorträgen und anderen künstlerischen Auftritten. Viele Künstler werden daher auch während der Laufzeit in Kassel präsent sein. “Ich glaube, dass wir eine sehr lebendige Veranstaltung haben werden”, verspricht auch Bernd Leifeld, der seit 1996 Geschäftsführer der Documenta GmbH ist.
Um die Weltkunstausstellung auch einem breiteren Publikum zu vermitteln, gibt es erstmals die sogenannten “Worldy Companions”. Rund 160 Kasseler, vom jungen Automechaniker über die pensionierte Schneiderin bis zum Hochschullehrer, werden derzeit intensiv geschult, um später rund zweistündige Führungen aus der Sicht interessierter, aber nicht kunsthistorisch ausgebildeter Laien anzubieten. Gefunden wurden die Worldy Companions über die lokale Presse. Über 700 Interessierte hatten sich spontan beworben. Die Vermittlungsarbeit spielt auf der Documenta spätestens seit der legendären Besucherschule von Bazon Brock 1968 eine zentrale Rolle. Ganz im Sinne ihres spekulativen Ansatzes nennt Carolyn Christov-Bakargiev ihr Besucherprogramm “Vielleicht Vermittlung und andere Programme”.
Bereits jetzt wird es eng für diejenigen, die Anfang Juni zur Eröffnung der dOCUMENTA(13) nach Kassel reisen möchten. Die meisten Hotelbetten sind bereits geblockt. Die alten Hasen im Kunstbetrieb haben bereits 2007 bei der Abreise für die Eröffnungstage reserviert. Roger M. Buergels Documenta 12 schloss damals mit dem Rekord von über 750.000 Besuchern – der überwiegend negativen Presseresonanz zum Trotz. Ob es dieses Mal noch mehr sein werden? Bernd Leifeld spekuliert nicht gerne über zukünftige Besucherzahlen. Dennoch wagt er eine verhaltene Prognose: “Beim nächsten Mal so viele Besucher wie beim letzten Mal plus eins. Und für den einen arbeiten wir hier Tag und Nacht.”
- dOCUMENTA (13) vom 9. Juni bis 16. September 2012
- Internet
- Documenta-Notebooks: “100 Notizen – 100 Gedanken” im Hatje Cantz Verlag, Preise je nach Format: 4 Euro, 6 Euro oder 8 Euro
Fotos von oben nach unten:
Die Künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev.
(Foto: Marco Ventimiglia)
Guiseppe Penone, “Idee de Pietra” (Ansichten eines Steins) in der Karlsaue, das erste Kunstwerk der Documenta13.
(Foto: Robertino Nikolic)
“100 Notizen – 100 Gedanken”, Buchreihe im Hatje Cantz Verlag.
(Foto: Hatje Cantz)