Das Verschwinden der Zeit

Leben in einem ärmlichen Jetzt

Von Friedbert W. Böhm

harold-lloyd-safety-last-clock1Beeindruckt von den makellosen Rasenflächen in einem Londoner Vorort, fragt der nordamerikanische Tourist einen Gärtner, welches wohl das Geheimnis solcher Perfektion sei. Ganz einfach, ist die Antwort, täglich gießen, einmal wöchentlich schneiden. Hundert Jahre lang.

Das hört sich gar nicht an wie “time is money”, ein Spruch, den wir als angelsächsisches Grundpostulat im Hinterkopf haben. Aber auch zu Hause sagen wir “Verschiebe nicht auf Morgen, was du heute kannst besorgen”.

Beide Sprüche stammen aus einer Zeit, in der die Zeit noch beinahe unangetastet existierte. Man hatte sie im Überfluss, genoss sie, auch während der Arbeit. Allerdings begannen damals andere Werte an Bedeutung zu gewinnen. Die Industrie hatte eine nahezu unvorstellbare Menge neuer Dinge geschaffen und auf den Markt geworfen zu Preisen, die nicht nur für Besitzer ererbten oder eroberten Reichtums erschwinglich waren. Manche dieser Dinge waren sehr nützlich, andere praktisch, schön oder halt dem Prestige förderlich. Sie kosteten Geld. Geld war (auf legale Weise) nur durch Arbeit, nachdenklichen Grips oder Sparsamkeit zu beschaffen. Die Erfüllung solcher Voraussetzungen kostet Zeit. Geld war eine Alternative zur Zeit geworden.

Der anfängliche Überfluss an Zeit gestattete einem kleinen Teil der Menschheit, durch seinen Transfer in Geld allerlei Armut zu mildern und einen in der bisherigen Geschichte kaum gekannten Mittelstand zu etablieren. Fron verwandelte sich in gesetzlich geregeltes Arbeitnehmertum, mühselige Handwerkerarbeit qua Mechanisierung und Delegation in Fabrikantendasein, kleine Händler wurden durch Überseekabel und Motorschiffe zu Handelskonzernen, Bankiersfamilien, ihrer Kundschaft folgend, zu weltumspannenden Finanzinstituten, Hausfrauen avancierten dank Ölheizung, Kühlschrank und Waschmaschine zu gelegentlich durch Gymnastik, Volkshochschule oder Literaturzirkel entstressten Kinderbetreuerinnen.

Das Wesen der Alternativen ist jedoch, sich gegenseitig zu verdrängen. Je schneller wir laufen, je höher wir springen, desto mehr bedürfen wir der erholsamen Ruhe. Je mehr Geld wir zu benötigen glauben, desto weniger Zeit bleibt uns. Zur Erholung. Für unsere Familie und unsere Freunde. Für unsere Hobbies. Zum Nachdenken über Dinge, die etwa die Zeit betreffen, die vergangene, welche vielleicht Hinweise geben kann auf eine ungewisse zukünftige.

Und wir laufen immer schneller, springen immer höher. Die größere, schönere Wohnung, die dreisprachige Privatschule für die Kinder, das schnellere, sicherere Auto, der Urlaub in Übersee, das Boot, die Golf- oder Tenniskurse müssen bezahlt werden. Wir machen Überstunden, suchen uns womöglich einen zweiten Job. Beide Partner müssen arbeiten, um die Ziele zu erreichen. Dies bedeutet ein zweites Auto, vielleicht eine Haushaltshilfe, externe Kinderbetreuung – neue Zusatzkosten, die durch neue Zeitverluste “finanziert” werden müssen. Unsere Kinder wachsen unter Fremdbetreuung auf; Verwandte und Freunde sehen wir kaum noch.

Auch an unserer Arbeitsstelle erleiden wir Zeitdruck. Für die Erreichung der vorgegebenen Ziele werden immer kürzere Fristen gesetzt. Das Unternehmen, die Unternehmer, sind strikt darauf angewiesen, in immer kürzeren Abständen immer neue Produkte oder Dienstleistungen “auf den Markt zu werfen”, um der Konkurrenz beim bereits übersättigten Publikum voraus zu sein. Der Takt an den Börsen wird von der Nanosekunde vorgegeben – dem Reaktionszeitraum des Supercomputers. Unsere Lieferanten massiver Dienstleistungen haben keine Zeit mehr für uns, lassen unsere Fragen durch Computersprüche beantworten oder durch entfernte Callcenters, deren Mitarbeiter lediglich stereotype Lösungen parat haben.

Ständig werden wir von neuer Werbung überflutet (oder müssen diese produzieren), damit diese Produkte oder jene Nachrichten bekannt werden. Dabei wird immer schneller gesprochen und immer schneller von einem Spot zum anderen umgeschaltet, denn Werbung kostet Geld und time is money. Kaum ein TV-Programm und absolut keine Internetseite kann man mehr betrachten, ohne durch ständige Werbeunterbrechungen überfallen zu werden. Selbst in den Kinofilmen folgen die Einstellungen und Einblendungen einander so hastig, dass eine nachdenkliche Verfolgung der Handlung kaum noch möglich ist.

Solche Hektik bleibt nicht ohne Auswirkungen auf unser eigenes Verhalten. Wir reden immer schneller, lesen nur noch Überschriften, zappen von einem TV-Programm oder einer Internetseite zur anderen, schreiben SMS statt Briefe. Wenn unser Handy oder iPod eine halbe Stunde lang keine Nachricht meldet, werden wir nervös, fürchten, von der Welt vergessen zu werden.

Dabei überschüttet diese Welt uns mit Nachrichten, ob wir wollen oder nicht. Jedes aus dem Rahmen fallende Vorkommnis der Antipoden dringt augenblicklich in unser Gehirn. Ohne Analyse, ohne Erklärung, ohne Hintergrund. Es beeinflusst kurzzeitig unser Gemüt und wird dann von der nächsten Nachricht verdrängt. Längst hindert uns das Verschwinden der Zeit, uns darüber Gedanken zu machen. Unsere Gedanken gehören den nächsten Minuten, dem Jetzt.

Wenn all diese Zeitopfer, wie die Alternativtheorie ja versprochen hatte, uns mit entsprechend mehr Geld entschädigt hätten, könnten wir uns ja von vielem Zeitdruck freikaufen. Dies ist jedoch anscheinend den Multimillionären vorbehalten. Wir Anderen leben in einem ärmlichen Jetzt, beinahe wie die Tiere, denen die Evolution lediglich ein überaus beschränktes Zeitempfinden verordnet hat.

Wie lange wird es in englischen Vorgärten noch perfekten Rasen geben?

Illustration:
Harold Lloyd in dem Stummfilm “Safety Last”.

Un comentario sobre “Das Verschwinden der Zeit”

  1. Silvia dice:

    Ein wirklich schöner Text, der die Realität widerspiegelt, die jeder wahrnimmt, aber sich im seltensten Falle Gedanken darüber macht. Zeit sollte wichtiger sein als Materialismus…
    Ich bin seit 3 Wochen hier in Buenos Aires und habe diesen Blog gefunden und werde ihn auf jeden Fall weiter verfolgen.
    Viele Grüße
    Silvia


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