Deutsche in Argentinien
Warum man heute am Río de la Plata kaum noch Deutsch hört
Von Friedbert W. Böhm
In den 60ern des vorigen Jahrhunderts machten sie noch eine recht sichtbare Minderheit in der Bevölkerung aus. Wenn ich mich recht erinnere, wurde von zwei Millionen Deutschsprechenden bzw. -stämmigen gesprochen. In manchen Nachbarschaften von Groß-Buenos Aires konnte man an jeder zweiten Ecke auf Deutsch einkaufen. Es gab zwei deutsche Tageszeitungen. In der deutschen Bank, in der ich damals arbeitete, sprach die Mehrzahl der mittleren Führungskräfte Deutsch und viele einfache Mitarbeiter verstanden es zumindest. Auch etliche einheimische Kunden schätzten es, auf Deutsch angesprochen zu werden. Bei Manchen herrschte eine noch bräunlich gefärbte, ziemlich irritierende Deutschtümelei.
Damals lebten noch einige der nach der Absetzung des Kaisers vor den Sozialisten Geflohenen. Die in den 30ern vor den Nazis und nach 1945 vor den Alliierten Geflohenen waren in den besten Jahren. Beinahe alle hatten eine neue Existenz aufgebaut, einige viel Geld gemacht.
Neue Einwanderer kamen nicht dazu. Es gab keinen Grund mehr, aus Deutschland zu fliehen. Dennoch blieb die deutsche Gemeinschaft (“Kolonie” sagte man) lebendig. Zahlreiche im Wirtschaftswunder erstarkte deutsche Firmen ließen sich im Land nieder. Ihre Vertragsleute belebten die deutschen Schulen, Vereine und Geschäfte. Sie schätzten diese Infrastruktur, denn man flog damals nicht alle paar Monate nach “drüben”, das Telefon funktionierte miserabel, es existierte keine Deutsche Welle, und Facebook und Skype natürlich auch nicht. Allerdings blieben diese Leute meist nicht lange. Nach ein paar Jahren lockten andere, interessantere Bestimmungen.
Inzwischen hatte sich die Reihe der alten Einwanderer sehr gelichtet. Die meisten ihrer Nachkommen sprachen kaum noch Deutsch. Es gab nun auch weniger materiellen Anlass dazu, denn in der Wirtschaft wurde die Sprache immer seltener nachgefragt. Etliche deutsche Firmen hatten sich angesichts der wenig erfreulichen Entwicklung des Landes zurückgezogen. Andere, die großen, hängten ihre Argentinienfilialen an Brasilien oder die USA an, wo Deutsch keine Rolle spielte. Oder sie führten ohnehin im Zuge der Globalisierung Englisch als Konzernsprache ein.
Nicht einmal für die wenigen Deutschstämmigen, die sich – zuweilen in dritter Generation – ein makelloses Deutsch bewahrt hatten, gab es noch genug gute Arbeitsplätze. Wenn sie konnten, wichen sie in das Land ihrer Vorfahren aus oder ein sonstiges europäisches oder nordamerikanisches.
So kam es, dass die deutschen Geschäfte verschwanden, dass man in den Vereinen kaum noch Deutsch hört und sehr lange suchen muss, um irgendwo Königsberger Klopse oder Leberkas vorgesetzt zu bekommen. Die von Zuhause mitgebrachten Deutschkenntnisse von Schulanfängern dürften heutzutage so dürftig sein, dass Lehrern, die sie zum Sprachdiplom führen, allerhöchste Anerkennung gebührt.
Das muss aber nicht so bleiben. Die Welt ist leider nicht mehr so, wie sie zu Zeiten des Wirtschaftswunders oder noch vor 30 Jahren war. Milliarden Osteuropäer und Asiaten, ehemals Sklaven ihrer Regierungen, tummeln sich jetzt in der globalen Wirtschaft. Dort ist ein Mittelstand von intelligenten, gut ausgebildeten, disziplinierten und sehr fleißigen Leuten im Entstehen, der mit Recht seinen Teil am Weltwohlstand einfordert. Zwar ist Wirtschaft kein Nullsummenspiel – an neuen Geschäften pflegen Verkäufer und Käufer zu verdienen -, aber wenn wegen geringerer Lohnkosten viele Betriebe von Westen nach Osten wandern, kann das nicht ohne Auswirkungen auf den westlichen Wohlstand bleiben.
Natürlich weiß man das seit Jahrzehnten. Politiker wären das aber nicht, wenn sie nicht jede Aussicht auf Einschränkungen vor ihren Wählern verbergen würden. So überhäufte man die Bürger mit Geld und Krediten, damit sie sich weiterhin Dinge leisten konnten, die aus ihrem echten Einkommen nicht mehr finanzierbar gewesen wären. Seit diese Methode 2008 sich als kontraproduktiv erwies, leiden die Industriezentren von Griechenland bis USA.
Dabei hat sich Deutschland gut gehalten. Einerseits natürlich wegen seiner gesunden Unternehmensstruktur, welche in zahlreichen Nischen Spitzentechnologie generiert, die von neuen Industrieländern nicht in wenigen Jahren aufgeholt werden kann. Und zum Anderen durch die Sozialmaßnahmen der Regierung Schröder. Arbeit wurde vor Einkommen gewichtet, somit der allgemeine westliche Schwund an Wettbewerbsfähigkeit etwas gemildert.
Das wird aber nicht lange so bleiben. Angesichts des Ausbleibens vieler südeuropäischer Aufträge beginnen sich die Wirtschaftsaussichten auch in Deutschland einzutrüben. Und es wird nicht lange dauern, bis China und Andere gelernt haben werden, die Exzellenz deutscher Nobelautos und Spezialmaschinen nachzumachen (wie Japan und Südkorea ja vorexerziert haben).
Dann mag sich das Interesse deutscher Unternehmen und Fachkräfte wieder auf Schwellenländer richten, welche noch industriell rückständig sind, dank ihres Nahrungsmittel- und Rohstoffreichtums jedoch nachhaltig steigende Absatzchancen im Osten besitzen.
Zweifelsohne ist Argentinien ein solches Land. Es befindet sich nur derzeitig in einer seiner für Investoren abschreckenden populistisch/nationalistischen Phasen. Sie dauert schon mehr als zehn Jahre und wird vorübergehen. Dann könnte es zu einer recht massiven Rückkehr von – unter anderen – deutschen juristischen und natürlichen Personen kommen, welche traditionelle Beziehungen zum Land besitzen. Am Erfolgreichsten dabei dürften diejenigen sein, die sich an das alte, bewährte Investoren-Motto erinnern: “Einsteigen, wenn die Kanonen donnern! Aussteigen, wenn die Posaunen schmettern!”
Die Kanonen donnern noch nicht, aber sie grummeln schon.