Qualitätsstrategie – Fortsetzung
Die Erde funkt wieder
Von Friedbert W. Böhm
Nach einer Zeitspanne, welche die Dortigen 35 Jahre nennen, erreichen uns seit Kurzem wieder Signale von jenem “Erde” genannten, sonnennahen Planeten. Sie sind sehr viel spärlicher als die vor der langen Funkstille gewohnten. Aber sie reichen aus, einen Teil unserer Informationslücke zu füllen und uns Anhaltspunkte zur Rekonstruktion des Restes zu geben.
Ein außerordentlich zerstörerischer Vulkanausbruch scheint die Verhältnisse auf der Erde radikal verändert zu haben. Er ereignete sich in einem als “Yellowstone” bezeichneten Gebiet, von dem wir aus früheren Nachrichten wissen, dass es, durch große oberflächennahe Magmamassen unterlegt, geologisch sehr labil ist. Yellowstone liegt auf einem Kontinent, der die vor der Katastrophe fortschrittlichste und wohlhabendste Gesellschaft der Erde beherbergt, eine Gesellschaft, deren wirtschaftliche, militärische und kulturelle Stärke Generationen hindurch die Menschen auf dem gesamten Planeten beeinflusst, nach der Meinung Mancher, dominiert hatte.
Glücklicherweise befindet sich Yellowstone in einer relativ schwach besiedelten Gegend, so dass die unmittelbaren Personen- und Sachschäden nicht erheblich größer gewesen zu sein scheinen als bei ähnlichen großen Vulkanausbrüchen. Im Unterschied zu jenen allerdings erreichten die Druckwellen sowie der Ausstoß von Asche und Gasen kaum vorstellbare Ausmaße.
Es scheint sich um Serien von Ausbrüchen gehandelt zu haben, die sich wochenlang hinzogen. Die Druckwellen dürften sich in Schüben von sich steigernder Intensität produziert haben. Sie vernichteten vermutlich sofort den größten Teil der Kommunikationsinfrastruktur im Umkreis von mehreren tausend Kilometern. Durch brechende Masten, Antennen, Kabel und Leichtbauteile dürften breitflächige Kollateralschäden wie Brände und Überschwemmungen aufgetreten sein, welche neben einer Großzahl von Wohneinheiten Förder- und Industrieanlagen, Warenbestände, Archive und Dateien unbrauchbar machten. Panik in der Bevölkerung, insbesondere in Großstädten, muss unmittelbar zum Ausfall öffentlicher Dienstleistungen, zu Plünderei und Anarchie geführt haben. Die Aschewolken verdunkelten den Himmel für Monate, hauptsächlich in den gemäßigten Klimazonen der Erde, wo der Hauptteil der Nahrungsmittel für die Menschen und ihre Haustiere produziert wird. In weiten Gebieten ging eine gesamte Jahresernte verloren.
Der Zusammenbruch von Kommunikations- und Transportmitteln in ihrem fortgeschrittensten und produktivsten Teil hatte zerstörerische Auswirkungen auf der ganzen Erde, die zudem wegen der Ernteausfälle unter großem Nahrungsmittelmangel litt. Die globale Wirtschaft war in einem Maße vernetzt, dass weit geringere Störungen als die hier beschriebenen sie ins Trudeln gebracht hätten. Jetzt brach sie zusammen.
Die Gesellschaftssysteme brachen zusammen. Es gab kaum noch Institutionen oder Organisationen, die gemeinsames Handeln hätten gewährleisten können. In einigen anfänglich weniger betroffenenen Regionen scheinen improvisierte Führer sich Zugang zu sogenannten “Atomwaffen” verschafft zu haben. Sie versuchten offenbar, durch deren Einsatz Macht und damit Zugang zu fürs kurzfristige Überleben nötigen Waren und Rohstoffen zu erlangen, erhöhten damit jedoch nur das allgemeine Chaos und vergrößerten die Zerstörungen. Der Mangel zerstörte jeden Gemeinsinn; Jeder war sich selbst der Nächste. Wer noch einige Vorräte besaß oder ein Stück Erde, um solche zu produzieren, verbarrikadierte sich und versuchte, mit irgendwelchen Waffen seine Überlebensgrundlage zu verteidigen. Die Großstädte entvölkerten sich. Wer sich nicht zu Verwandten aufs flache Land retten konnte (viele verhungerten oder wurden ermordet auf dem Weg), starb verlassen in seiner Wohnung, wenn er sich nicht einer der zahlreichen Banden anschließen konnte, welche auf grausamste Weise versuchten, sich in Stadt und Land das Überlebensnotwendige zu verschaffen. Die Erde versank in Anarchie. Wir haben Grund zur Annahme, dass gut zwei Drittel der Bevölkerung die Katastrophenfolgen nicht überlebten. Der Rest vegetierte in Angst und Not.
Wie es scheint, gab es dennoch einige Stellen, in denen eine elementare Ordnung erhalten blieb. Es waren dies dorfähnliche, kleine Ortschaften mit einem in vielen Generationen geprägten Gemeinsinn. Dort kannten die Leute einander und wussten, wem zu vertrauen war. Manche dieser Gemeinschaften hatten schon längere Zeit vor der Katastrophe an der Zukunftsfähigkeit der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle zu zweifeln begonnen. Die dort überwiegende Hektik etwa hatten sie als Minderung ihrer Lebensqualität empfunden und sich “Langsamkeit” verordnet. Andere waren es müde geworden, in ihrer Energieversorgung von gigantischen Systemen abhängig zu sein, die sie nicht verstehen und noch weniger beeinflussen konnten. Sie hatten ihre Ersparnisse, statt sie einem unübersichtlichen und zunehmend suspekten Finanzmarkt anzuvertrauen, örtlich zusammengelegt und damit Windgeneratoren, Solarelemente oder geothermische Anlagen finanziert. Auch hatten sie in ihrer Umgebung die Entwicklung einer Landwirtschaft provoziert, welche eine akzeptable Produktion ohne Einsatz ortsfremder Saaten, Dünge- und Futtermittel gewährleistete. Solche Gemeinschaften retteten sich natürlich nicht vor dem plötzlichen Mangel an all den Dingen, die den gewohnten Lebenswandel ausmachten. Aber sie kamen durch.
Wie sie mit der Zeit merkten, gar nicht so schlecht. Nachdem die erste Not wegen fehlenden frischen Gemüses und Obstes (man half sich mit Vitamintabletten) behoben und die lokalen Energieträger mit Bordmitteln notdürftig instand gesetzt worden waren, konnte ein bescheidenes Weiterleben beginnen. Die Gemeinschaften wählten Noträte, die über die Verteilung noch vorhandener Lebensmittel und Medikamente entschieden und bestimmten geeignete Leute für prekäre Sicherheitsorgane. Lehrer kümmerten sich um den Fortbestand des Schulbetriebs, Techniker um die Wartung elementarer Infrastruktur und Ärzte um die Krankenbetreuung. Natürlich musste man dabei ohne Computer und stromfressende Mega-Apparaturen auskommen. Es ging aber auch so, nachdem sich die Verantwortlichen wieder daran gewöhnt hatten, die persönlichen Umstände von Schülern, Nutzern und Patienten behutsam zu erkunden und in Betracht zu ziehen.
In manchen Gegenden gab es mehrere solcher Gemeinschaften von Überlebenskünstlern. Sofern anfänglich zu Fuß oder per Fahrrad erreichbar, schlossen sich bald einige davon zu kleinen Allianzen zusammen. Man tauschte Waren und Dienstleistungen, Solarstrom etwa gegen Brennholz. An einer Stelle gab es jemanden, der Fahrräder reparieren konnte und an einer anderen einen Krebsspezialisten. Wo es ausreichende Energie gab, konnten die Ingenieure sogar in kurzer Zeit wieder ein regionales, einige Stunden täglich funktionierendes, Fernsprech- oder Funknetz aufbauen. Dies war vor allem notwendig zur Bündelung der kleinen örtlichen Verteidigungsmannschaften, wenn irgendwo plündernde Banden im Anzug waren. Wo in einer dieser Allianzen eine Druckerei betriebsfertig gemacht werden konnte, wurde Notgeld in Umlauf gebracht, denn das alte Finanzsystem hatte die Katastrophe natürlich nicht überlebt.
Nach einem Modewort, das die Katastrophe überlebt hatte, nannte man diese vereinzelten Allianzen “Cluster”. Die Cluster waren Inseln der Ordnung in einem Meer von Anarchie und Verzweiflung. Als solche begannen sie, Zulauf zu bekommen aus Orten, die kaum oder nicht auf Selbstverwaltung vorbereitet waren. Dem stand man zunächst recht ablehnend gegenüber, denn man hatte viel mit sich selbst zu tun und es gab keine Überschüsse zu verteilen. Dennoch ergab sich allmählich ein Austausch von raren Dingen, Kenntnissen und Fähigkeiten. Die Cluster füllten sich auf, rundeten sich ab und dehnten sich aus.
Das waren dann schon großflächigere Gemeinschaften von mehreren Zehntausend. Sie mussten organisiert werden. Dazu waren die ursprünglichen, improvisierten Noträte überfordert. Es versteht sich von selbst, dass sofort nach Überbrückung der schlimmsten Notlagen ehemalige Politiker auftraten, um ihre ehemaligen Parteien zu reorganisieren. Dies, meinten die Noträte, sei aber gewiss nicht im Sinne einer nachhaltigen Zukunftsordnung. Schließlich hätte der Zusammenbruch des alten, zentralistischen und bürgerfernen Systems seine Inkompetenz im Katastrophenfall hinlänglich bewiesen. Eine neue Gesellschaftsordnung müsse her.
Der gesellschaftliche Reorganisationsprozess scheint mehrere Jahre in Anspruch genommen zu haben und alles andere als geradlinig verlaufen zu sein. Er dürfte auch noch nicht abgeschlossen sein, denn vor der Katastrophe hatten sehr verschiedene Modelle existiert, vom Stammesverband bis zur großflächigen republikanischen Demokratie. Die Reformation ging natürlich von den Stellen aus, die ein einigermaßen geordnetes Überleben geschafft hatten, den Clustern.
Im Maße, in dem diese sich stabisilierten und erweiterten, ergaben sich zunehmend Meinungen, dass nun die Zeit gekommen sei, wieder großflächige Produktions-, Verteilungs- und Verwaltungskomplexe zu organisieren, um das “Wachstum” zu fördern. Diesen Ansichten stand die Überzeugung der Mehrheit der Clusterarchitekten gegenüber, dass Kleinteiligkeit in jeder Beziehung eine sicherere Zukunftsperspektive biete als der aus der gesamten Menschheitsgeschichte sattsam bekannte Größenwahn. Sie setzten sich zusammen, um eine “Nachhaltige Qualitätsstrategie” zu entwerfen.
Deren Grundlage war die eigentlich von jeher bekannte, kaum je aber in politischen Systemen effektiv umgesetzte Erkenntnis: Der Ursprung gesellschaftlichen Erfolgs ist gegenseitiges Vertrauen.
Um jemandem zu vertrauen, sagten die Clusterweisen, muss man ihn kennen. Das menschliche Gehirn, folgerten sie weiter, ist zwar ziemlich effizient, aber nach allen Erfahrungen – im Militär, in der Wirtschaft, in der Politik – nicht imstande, mehr als etwa 200 Nachbarindividuen nach ihren Stärken und Schwächen einigermaßen einzuordnen. Dies, so folgerten sie, solle die Anzahl der Wähler sein, welche auf der unteren Stufe der Gesellschaftsordnung aus ihrer Mitte einen Vertreter für sie bestimmen und einen Stellvertreter. Und alle diese Wähler, fügten sie hinzu, müssen seit mindestens zwei Jahren einer Gemeinschaft von mindestens 200 angehören, die einen übersichtlichen Wohnkreis teilen. So wird die 200-Bürger-Gemeinschaft zu einem Forum, wo jeder Bürger seine Meinung äußern kann und jeder “Politiker” Rechenschaft ablegen muss. Die “Politiker” sind es auf begrenzte Zeit. Die ihnen währenddessen entgangenen Einkünfte und Rechte sowie ihre Spesen werden ihnen von der Gemeinschaft erstattet. Angestellte und Berater brauchen sie nicht; schließlich gibt es in der Bürgergemeinschaft Spezialisten, die der “Politiker” gratis befragen kann.
Für weiterreichende Entscheidungen wählen die Bürgervertreter einen Regionalrat von 3-5 Leuten aus ihrer Mitte. Es versteht sich von selbst, dass es hierfür nicht mehr als 200 Kandidaten, ausschließlich aus benachbarten Basisgruppen, geben kann und dass diese sich durch häufige periodische, etwa wöchentliche, Treffen gut kennengelernt haben müssen. Das sind dann die Vertreter von etwa 40.000 wahlberechtigten Bürgern, dem “Regionalkreis”. Zur Wahrung des 200-Individuen-Prinzips werden die Wahlkreise der 1. und 2. Ordnung periodisch austariert in einer “Begradigungsversammlung”. Die Regionalkreise besitzen das Machtmonopol, erheben Steuern und wählen lebenslange Richter. Für gewisse überregionale Aufgaben können sie zweckbestimmte, zeitlich begrenzte Allianzen mit benachbarten Regionalkreisen eingehen. Sie können, müssen aber nicht, eigene Währungen besitzen. Einfuhr- oder Ausfuhrzölle dürfen sie nicht erheben. Eine dritte Stufe der Gesellschaftsordnung hielten die Clusterarchitekten nicht für angebracht.
Letzteres erzeugte massive Verwirrung bei den Bürgern. Und wenn wir von einem anderen Regionalkreis überfallen werden? Oder von einer externen Superbande? Wer verteidigt uns? Die außerregionalen Angelegenheiten, wer kümmert sich um sie? Wir schätzen Langsamkeit, Heimatverbundenheit und nachhaltige Produktion, fuhren sie fort, aber ab und zu möchten wir schon nach Außen; schließlich glauben manche von uns, noch Verwandte und Freunde dort zu besitzen. Dafür muss es überregionale Kommunikations- und Transportbedingungen geben! Auch sind wir ganz zufrieden mit unserem Kohl, den Äpfeln und Pflaumen. Zu besonderen Anlässen jedoch würden wir doch ganz gern Orangen, Bananen und Ananas auf den Tisch bringen; es müssen ja nicht gerade jeden Tag Kiwis zum Frühstück sein.
Die Diskussion scheint lange hin- und hergegangen zu sein. Die Clusterarchitekten wiesen darauf hin, dass hinsichtlich der Verteidigungsfrage man sich von hergebrachten Kriegsängsten endlich befreien sollte: Weder existierte nach der Katastrophe noch die chauvinistische Selbstüberschätzung der Gesellschaften, noch die nationalen Führer, welche diese zum Expansionswahn hätten aufrühren können. Doch wenn solche Versuche irgendwo noch denkbar gewesen wären, stände ihnen eine massive Abwehr der Bürger entgegen. Schon vor der Katastrophe besaßen diese so wenige Kinder, dass sie unter keinen Umständen bereit gewesen wären, auch nur eines davor für höheren Nationalruhm zu opfern. Und nun waren die Gesellschaften derart ausgedünnt, dass allein der Gedanke, irgendein Menschenleben zu riskieren, für Jedermann abstrus erschien.
Und was die überregionalen Produktionen und Verbindungen anbetrifft, sagten die Weisen, stehe es den Regionalkreisen ja offen, mit anderen, natürlich benachbarten, eine Zweitwährung zu kreieren, mit welcher interessierte Bürger in die Herrichtung oder Gründung von Bus- oder Flugzeugwerken oder Werften investieren könnten. Solche Produktionsstätten dürften allerdings nur im 200-Wähler-Kreis ansässige Bürger einstellen. Für die entsprechenden Verbindungsstraßen hätte jeder Regionalkreis in seinem Gebiet zu sorgen. Natürlich würde die Größe solcher Produktionen nicht mehr die riesigen, kostengünstigen Vehikel erlauben, wie sie vor der Katastrophe die Regel waren. Fernreisen würden also Luxuscharakter besitzen, dem Bürger nur äußerst selten möglich sein und bei ihm behutsame Planung sowie längeres Sparen voraussetzen.
An eine massive PKW-Produktion war ohnehin nicht mehr zu denken. Wenn nicht schon die Infrastruktur großenteils betriebsunfähig gewesen wäre, hätte allein der Mangel an mineralischen Energieträgern entsprechenden Projekten unüberwindliche Grenzen gesetzt. Die Leute machten sich darüber wenige Gedanken. Da die allmählich angenommenen und sogar als angenehm lebensnah empfundenen Prinzipien der Langsamkeit und Dezentration ständige Mobilität erübrigten, kam man im Tagesgeschäft gut mit Muskelantrieb zurecht oder – soweit ausreichend erneuerbare Energie zur Verfügung stand – mit einfachen Elektrovehikeln. Wo mehrere Regionalkreise sich zusammenfinden konnten, wurden auf alten Gleisanlagen periodische Zugverbindungen istalliert mit Lokomotiven, die mit Biogas oder Abfallholz angetrieben wurden.
Etliche der anfänglichen Regionalkreise hatten begonnen, ihre Prinzipien in verfassungsähnlichen Dokumenten niederzulegen. Man verglich diese Schriftstücke untereinander, diskutierte, verbesserte, schrieb ab. So entstand allmählich ein theoretischer Unterbau für nachhaltige Lebensweise und Gesellschaftsform, welcher äußeren Regionen zur Information und sich neu formierenden Kreisen zur Anregung diente. Deren Fragen und Einwände wiederum befruchteten die Kernaussagen.
Dabei ergab sich weitgehende Übereinstimmung über ein weiteres, zunächst nicht berücksichtigtes, wichtiges Grundprinzip: Nachhaltige Lebensweise war nicht mit unbegrenzter Vermehrung vereinbar. Territorium und Einwohnerzahl mussten in einem Verhältnis stehen, das die Nutzung natürlicher Ressourcen unter Erhaltung ihrer Substanz erlaubte und den außermenschlichen Lebensarten eine Existenz ermöglichte. Man beschloss, in die “Verfassungsähnlichen Empfehlungen” einen Passus aufzunehmen, der die Kinderzahl pro Frau auf mindestens eines und höchstens drei festsetzte. Einmal pro Generation sollte dieser Passus überdacht werden. Es erstaunt wiederum, wie harmonisch diese Empfehlung befolgt wurde. Allein der Prestigeverlust, den ihre Nichtbeachtung in der 200-Individuum-Gemeinde auszulösen pflegte, sorgte für seine Einhaltung.
Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass die in ländlichen Gebieten überraschend problemlos funktionierende neue Ordnung in den vielen größeren und Großstädten mit ihren ehemals zentralistischen Verwaltungen und ihrer großen Abhängigkeit von nationalen, ja, globalen, Kommunikations-, Produktions- und Verteilungssystemen auf enorme Schwierigkeiten und Widerstände gestoßen wäre. Dies scheint jedoch vielerorts kaum der Fall gewesen zu sein.
Wenn diese Menschenansammlungen nicht schon – da katastrophennah gelegen – unter Druckwellen oder Ascheregen gelitten hatten, waren sie durch Energie- und Nahrungsmangel sowie die Tätigkeit brutaler Banden weitaus mehr als ländliche Gebiete betroffen und in der Folge zu nicht geringen Teilen entvölkert worden. Arbeitslosigkeit, Hunger, fehlende Krankenbetreuung und andere Dienstleistungen hatten die Einwohner durch Tod oder Abwanderung dezimiert. Die Verbleibenden hatten sich zum Überleben mit dem nahen ländlichen Umfeld arrangieren müssen und dabei die dort jetzt herrschenden Prinzipien kennengelernt. Prinzipien übrigens, die manchen von ihnen aus der Theorie durchaus bekannt waren, welche umzusetzen ihnen jedoch im Vorkatastrophensystem verwehrt gewesen war. Nun kramten sie alte Bücher und Artikel hervor und begannen, nach deren Anleitungen auf verlassenen Fabrikgeländen, ungenutzten Plätzen, auf Dächern und entwändeten Obergeschossen unbewohnbarer Hochhäuser (die Fahrstühle lagen ja still) Gemüsebeete anzulegen, Obstbäume und Beerensträucher zu pflanzen, und Hühner- und Kaninchenställe gab es bald auch. Die Städte beruhigten und begrünten sich, ohne zu veröden. Man rückte zusammen zu 200-Wähler-Gemeinden und Regionalkreisen. Leblos blieben lediglich Flughäfen, Fernbahnhöfe sowie die monumentalen Zentralen der Konzerne, Banken und ehemaligen Regierungen.
Man hätte meinen können, dass all diese Transformationen den Menschen nahezu unmögliche Verhaltensänderungen abverlangt hätten. Dies scheint aber nicht so gewesen zu sein. Die Leute selbst wunderten sich darüber, wie rasch sie etwa vom Kybernetiker zum Fahrradtechniker oder vom Bankleiter zum Koch werden konnten. Da traten Begabungen und Fähigkeiten zutage, die sie sich gar nicht zugetraut hätten. Oft stellte sich sogar ein Glücksgefühl ein beim Ernten der ersten selbst gezogenen Tomaten oder bei Betrachtung eines mühsam reparierten Möbels. Es war befriedigend, nach harter Arbeit einen Erfolg vor Augen zu haben. Als winzige Teile unendlicher, unübersichtlicher Produktionsketten hatten die Allermeisten solche Erfolgserlebnisse früher nicht gekannt.
Übrigens herrschte auch größerer innerer Frieden. In kleinen Gemeinden sind Missetäter rasch identifiziert. Kleine Strafen reichen zur Resozialisierung aus, so dass Anfangstäter sich kaum zu Schwerverbrechern entwickeln. Internationale Terroristen- und Verbrecherorganisationen, die ehemals im allgemeinen Kommunikationswirrwar ihr Unwesen treiben, ihre Waffen und Waren beinahe unbehelligt als Beiladung eines monströsen Vertriebssystems hatten beschaffen können, waren zusammengebrochen wie die legalen Konzerne.
Die Kulturschaffenden erlebten eine unerwartete Aufwertung. In Abwesenheit immerwährender Unterhaltung durch elektronische Medien begannen die Menschen, ihr Vergnügen selbst zu organisieren. Alte Musikinstrumente wurden hervorgeholt und ihr Gebrauch geübt. Ehemalige Schauspieler organisierten Theatergruppen. Die Volkshochschulen erhielten Zulauf. Da industrieller Wohnungsschmuck, Magazine und Billigbücher sowie Konservenmusik nicht mehr zur Verfügung standen (nunmehr auch als minderwertig empfunden wurden), hatten die ehemals am Rande der Gesellschaft lebenden Maler, Bildhauer, Musiker und Literaten nun wieder allerorts ein dankbares Publikum. Natürlich gab es keine Stars mehr, die Millionen mobilisierten und verdienten. Aber ein kreativer Künstler war nun so angesehen und auch materiell ausgestattet wie ein ordentlicher Handwerker oder Lehrer.
Ähnliches galt für die Sportler. Wer Sport liebte und dazu in der Lage war, übte ihn aus. Seine Erfolge im kleinen Kreis zeitigten den Respekt des Publikums, ohne ihn mit den Geldmassen zu überschütten, die früher aus den globalen Vertriebssystemen flossen und mit denen er wenig mehr anfangen hatte können, als sie in obszönen Luxusenklaven auszugeben. Spitzenleistungen waren uninteressant. Wenn hierüber von irgendwo berichtet wurde, ließ das die Sportsfreunde kalt. Man kannte jene Leute ja gar nicht und hatte weder den Drang noch die Möglichkeit, solche Nachrichten zu überprüfen.
Wie wir und andere interstellare Adressen ja längst aus eigener sehr langwieriger und mühsamer Erfahrung wissen, ist es müßig, die ganze Wahrheit über das Universum ergründen zu wollen. Zu dieser Erkenntnis ist die Wissenschaft auf der Erde noch nicht gelangt. Dennoch scheint sie sich umständehalber eine weise Selbstbeschränkung auferlegt zu haben: Selbst wenn noch die ungeheuren Mittel an Energie und Arbeitskraft zur Verfügung gestanden hätten, die vor der Katastrophe zur Ergründung der vermeintlich letzten Geheimnisse im Aufbau der Materie oder der Geschichte des Universums eingesetzt waren (oder gar zu dessen Erkundung durch irdische Artefakte), der ungewisse Erfolg solcher Programme hätte in keinem vernünftigen Verhältnis gestanden zu den Vorteilen, die die Verwendung dieser Mittel für die Wahrung der Gesundheit des eigenen Planeten versprachen. Die Wissenschaftler kamen also ziemlich schnell überein, Mikrokosmos und Makrokosmos der Phantasie der Philosophen zu überlassen und die Energie auf den eigenen Mesokosmos zu konzentrieren.
Dort gab es ja auch gewiss noch genug zu tun. Nicht einmal alle Lebensarten ihres Planeten hatten die Menschen erfasst, so dass sie davon entfernt waren, etwa den Schaden des von ihnen verursachten Artensterbens quantifizieren zu können. Man warf sich also auf das Studium der irdischen Lebensformen und ihrer Verschränktheit in den zahlreichen und sehr unterschiedlichen Biosystemen. Der Fortschritt solcher Erkenntnisse erlaubte den Menschen nicht nur, Wege zum gedeihlichen Zusammenleben mit anderen Kreaturen zu weisen, er eröffnete auch sehr wertvolle neue Möglichkeiten, erneuerbare, ständig verfügbare Naturkräfte effizient zu nutzen. Und das alles konnte in kleinen Forschungs- und Lehrzirkeln erarbeitet werden, welchen nach Absprache zwischen den Regionalkreisen gewisse Privilegien für die Kommunikation mit anderen Zirkeln eingeräumt worden waren, um Ergebnisse auszutauschen.
Wie unsere Analysten schildern, scheint die Rückkehr der Erdbevölkerung zur Qualitätsstrategie längst nicht abgeschlossen. Die hier geschilderte “Small-Is-Beautiful-Strategie” erfasst erst einen Kernbereich des Planeten. Es ist der, welcher die anscheinend effektivste und intelligenteste Form des Überlebens organisieren konnte – und der einzige, aus dem uns Funksprüche erreichen. Aus diesen Nachrichten können unsere Spezialisten jedoch destillieren, dass in anderen Gegenden weiterhin schlimme Not und grausame Bräuche herrschen. Immerhin hat die bisherige Post-Katastrophen-Entwicklung gezeigt, dass der Erfolg vernünftiger Prinzipien unter gewissen Umständen ansteckend ist.
Die Umstände waren katastrophale Naturereignisse. Nun, da diese Umstände ihre Dominanz verloren haben, bleibt abzuwarten, ob die Erdbevölkerung aus eigener Erkenntnis eine nachhaltige Lebensweise global zu instituieren und zu erhalten in der Lage sein wird.
Sie wäre dabei gut beraten, dem dort lange verunglimpften Begriff der Bescheidenheit in der Erziehung, in den Wählergruppen, in und zwischen den Regionalkreisen neues, prioritäres Gewicht zu verleihen. Damit könnte verhindert werden, dass der jedem Lebewesen angeborene Drang zur unbegrenzten Vermehrung – durch den vermeintlichen Zwang, möglichst jedem der möglichst vielen Nachkommen möglichst optimale Expansionsmöglichkeiten zu eröffnen – die gerade in Anfängen befindliche, zukunftsträchtige Entwicklung wieder in Richtung eines Kollapses wie jenem führt, dem die Menschheit vor der Katastrophe ziemlich nahe war.
22/2/13 a las 22/02/2013
Eine hochinteressante phantasievolle Fiktion meines fast schon ausserirdischen Vetters Fips, einfach toll und geistreich. (Bankdirektoren sattelten aber auch schon früher zu Viehzüchtern um).
jorgpablo