Bis dass der Tod uns scheidet
In ganz Argentinien gingen die Menschen auf die Straße, um auf die steigende Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen
Von Meike Michelmann gen. Lohmann
Chiara, Gabriela, Marta, Lola und so viele mehr – ihre Namen stehen für schreckliche Verbrechen an Frauen, die nur aufgrund ihres Geschlechts begangen wurden. Chiara Paéz, 14 Jahre alt aus der Region Santa Fe, erwartete ein Kind. Ihr 16-jähriger Freund ermordete sie und vergrub ihre Leiche im Garten seiner Familie. Gabriela Parrera, 42 Jahre alt, zu Tode geprügelt von einem Stalker. Die Leiche der 25-jährigen Marta wurde, schwer misshandelt, auf einer Brachfläche in Yerba Buena in der Provinz Tucumán gefunden.
Allein im letzten Jahr wurden in Argentinien laut der NGO “Casa del Encuentro” (CdE) 277 Morde an Frauen gemeldet. Bei der Polizei von Buenos Aires gingen zusätzlich knapp 170.000 Anzeigen über Gewalttaten gegen Frauen ein. “Die Dunkelziffer ist wohl noch deutlich höher”, beklagte die Direktorin von CdE, Fabiana Tuñez, in einem Interview mit der Zeitung La Nación. “Femicidios” oder auch “feminicidios” werden diese Arten der Gewaltverbrechen an Frauen im Spanischen genannt. Femizide, das in der deutschen Umgangssprache kaum gebräuchliche Äquivalent, beschreibt Morde an Frauen, die aufgrund von Hass und Verachtung gegenüber dem weiblichen Geschlecht sowie Machtdemonstration oder Besitzansprüchen, von männlichen Tätern verübt werden. Aber auch der Tod einer Frau durch fehlende oder schlechte medizinische Versorgung während der Geburt oder illegalen Abtreibungen werden als solche bezeichnet.
Jedes Jahr werden Tausende Frauen und Mädchen in Südamerika Opfer von Gewalt und das nur aus einem Grund – weil sie nicht als Mann, sondern als Frau geboren wurden. Dabei sterben in keinem anderen Land Südamerikas mehr Frauen als in Argentinien. Zieht man die Länder Zentralamerikas mit dazu, landet Argentinien auf dem fünften Platz. Angeführt wird das traurige Ranking von Mexiko, wo im Durchschnitt alle fünf Stunden eine Frau ermordet wird. Daneben gab es in den letzten Jahren nur in Guatemala, Costa Rica und der Dominikanischen Republik mehr gender-motivierte Morde an Frauen als in Argentinien. “Diese Zahlen spiegeln eine Gesellschaft wider, die beherrscht wird von machistischen Paradigmen, wo die Frau immer noch nur als ‘eine Sache, die man unterdrücken muss’, angesehen wird”, erklärte Tuñez im Gespräch mit La Nación.
Protestwelle breitet sich aus
In Argentinien haben die jüngsten und besonders grausamen Fälle von Femiziden eine Welle an Empörung und Protest ausgelöst. Seit dem Tod von Chiara Paéz vor einigen Wochen verbreitet sich der Hashtag #NiUnaMenos unaufhaltsam in den sozialen Netzwerken. Entstanden ist er aus der Parole “Ni una mujer menos! Ni una muerta más” (Nicht eine Frau weniger! Nicht eine Tote mehr!). Vor allem auf Twitter finden sich unter diesem Slogan Tausende Fotos von Unbekannten, aber auch Prominenten aus Sport, Kultur und Politik, die sich mit der Parole #NiUnaMenos oder dem ähnlichen #BastaDeFemicidios (Schluss mit den Frauenmorden) fotografieren lassen und so ihre Unterstützung im Kampf gegen gender-motivierte, aber auch jede andere Form von Gewalt deutlich machen. Und der Protest bewegt sich schon lange nicht mehr nur im virtuellen Raum. Am Mittwoch versammelten sich Zehntausende Menschen auf der Plaza de Congreso in Buenos Aires, um ihrer Wut und Trauer Luft zu machen.
Organisiert von Journalistinnen wie Ingrid Beck, Herausgeberin der Zeitung “Barcelona”, und der NGO “La Casa del Encuentro” zog der Protestmarsch durch die Stadt. Darunter viele Frauen und Männer jeden Alters und aus allen sozialen Schichten, Organisationen, Vereine, Künstler und Parteien. “Für alle, die jetzt hier sind! Für alle, die nicht mehr hier sein können! Wir kämpfen für Euch!”, immer und immer wieder schreien knapp vierzig in lila Gewänder gehüllte Frauen, die sich im Gleichschritt und mit ernstem Blick dem Protestmarsch anschließen, diese Parole. Zwischen den Menschenmassen sieht man auch immer wieder Demonstranten, die Fotos von getöteten Angehörigen oder Freunden in die Höhe halten. Dazwischen auch eine ältere Frau mit grauem Haar und leuchtend rotem Mantel, die sich an ein Foto von einer jungen Frau klammert: “Meine Tochter wurde von ihrem Ehemann geschlagen, aber sie hat ihn immer wieder in Schutz genommen”, erzählt Analía Iglesias und zeigt auf das Foto ihrer toten Tochter. “Ich bin heute hier, um anderen Frauen Mut zu machen, sich zu wehren.”
Nicht nur in Buenos Aires gingen die Menschen auf die Straße, auch in Rosario, Tucumán und vielen anderen Städten gab es lautstarke Protestmärsche. Damit wollten die Demonstranten nicht nur auf die getöteten Frauen aufmerksam machen, sondern auch ein Zeichen an die Politik senden.
Zwar gibt es bereits seit 2010 das Gesetz Nr. 26.485, das einen besseren Schutz der Frauen vor Gewalt sowie effektivere Prävention und Bestrafungen der Täter gewährleisten soll. Laut Organisationen wie CdE werden diese Gesetzesänderungen aber bis heute kaum angewendet. Die Menschen auf der Plaza fordern, dass die im Gesetz festgelegten Punkte auch umgesetzt werden. “Solange die Gesetze nur auf dem Papier stehen, aber nicht dafür gesorgt wird, dass sie auch im täglichen Leben angewendet werden, bringen sie den betroffenen Frauen gar nichts”, sagt die Vorsitzende der Organisation “Amigos del Alma”, Marilina Villarejo. Daneben fordern die Demonstranten einen besseren Umgang der Justiz mit den Opfern und eine staatliche Erfassung von Femiziden. Auch eine bessere Aufklärung über Sexualität und Geschlechterrollen steht auf der Agenda, denn nur so könne ein Wandel in den Köpfen vieler Menschen bewirkt werden, um gender-motivierter Gewalt vorzubeugen.
Fehlende Zufluchtsorte
Als Vorsitzende von “Amigos del Alma” (AdA), einer Organisation, die sich gegen Gewalt gegen Frauen und Kinder einsetzt, kennt Marilina Villarejo viele dieser Probleme aus der Praxis: “Nur wenige Frauen haben den Mut, ihre Peiniger anzuzeigen, und wenn sie es dann doch tun, heißt das nicht, dass automatisch alles gut wird.” Nach der Anzeige stellt sich oft die Frage, wie es danach für die Frauen weitergeht. Oft kommen die Täter nicht ins Gefängnis, und die Frauen können nicht zurück nach Hause, ohne sich wieder in Gefahr zu begeben. Wenn sie dann keine anderen Verwandten haben, die sie und in den meisten Fällen auch ihre Kinder aufnehmen können, stehen sie oft auf der Straße. Staatliche Hilfsangebote oder Unterkünfte gibt es in Argentinien kaum. Für einige dieser Frauen und Kinder bietet “Amigos del Alma” einen Zufluchtsort.
Der 2003 gegründete Verein betreibt seit 2013 ein Frauenhaus in Pilar nördlich von Buenos Aires. Zehn Jahre haben die Mitglieder von AdA gebraucht, um die finanziellen Mittel und genügend Unterstützung für den Bau der “Casa de Abrigo” zu sammeln. Abseits vom Stadtzentrum und durch hohe Mauer geschützt steht das Haus, das bereits mehr als 100 Frauen und Kinder in Notsituationen aufgenommen hat. Die meisten bleiben ein bis zwei Monate, maximal aber 90 Tage. “Das ist nicht viel Zeit, um sich von dem Erlebten zu erholen, aber wir hoffen immer, ihnen zumindest die Basis für eine bessere Zukunft mitgeben zu können”, erzählt Marilina Villarejo. Vor Ort kümmern sich Psychologen und Sozialarbeiter um die teils stark traumatisierten Frauen und Kinder. Die meisten haben nie erlebt, was Liebe und Zuneigung eigentlich bedeutet. Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem Schläge zum normalen Tagesablauf gehören und soziale Strukturen oft kaum vorhanden sind, erleben sie dort zum ersten Mal, was es bedeutet, friedlich zusammenzuleben.
Liebe muss gelernt werden
Durch ihre Arbeit bei Ada kann die Mutter von drei Töchtern viele traurige Geschichten erzählen. So wie die des achtjährigen Marcos und seiner vier jüngeren Geschwister, die in die Unterkunft kamen, weil ihren Eltern das Sorgerecht entzogen wurde. Als Ältester kümmerte sich Marcos um seine jüngeren Geschwistern, schaute, dass sie genug aßen und es ihnen gut ging. In der ersten Nacht brachten die Betreuerinnen die Kinder zu Bett. Ein paar Stunden später hörten sie, dass die Kinder weinten. Als sie nachfragten, was los sei, antwortete Marcos, er habe seine Geschwister geschlagen, weil sie nicht schlafen wollten. Das hätten ihre Eltern auch immer so gemacht, wenn sie keine Ruhe geben wollten. “Und genauso ist es bei vielen der Frauen, die hierher kommen, sie müssen erst einmal lernen, was Liebe ist, und dass Schläge und Demütigungen nichts mit Zuneigung und dem Interesse am Anderen zu tun haben”, erklärt Marilina Villarejo ruhig.
“Auch wenn wir nur sehr wenigen betroffenen Frauen helfen können, so ist doch jede kleine Erfolgsgeschichte eine Bestätigung für unsere Arbeit”, sagt sie und lächelt leicht. Ihre Organisation würde gerne noch mehr Orte wie die “Casa de Abrigo” eröffnen, um mehr Frauen zu helfen. Dafür reichen aber weder die finanziellen noch die menschlichen Ressourcen. “Das große öffentliche Echo, das #NiUnaMenos erzeugt hat, lässt uns hoffen, dass nicht nur die Politik endlich etwas tut, sondern dass sich vor allem etwas in den Köpfen der Menschen verändert und in Zukunft keine Frau, kein Kind und kein Mann mehr einen Zufluchtsort vor Gewalt suchen muss.”
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Allein vor dem Parlament in Buenos Aires forderten mehr als 150.000 Menschen am Mittwoch einen besseren Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt.