Der Souveränitätseffekt
Goethe-Institut begrüßt Kulturwissenschaftler Joseph Vogl
Auf Einladung des Goethe-Instituts besucht der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl zum ersten Mal Argentinien.. Im Dialog mit lokalen Referenten stellt er eine Geschichte der Mythen und Unvereinbarkeiten der ökonomischen Narrativik dar, um zu verdeutlichen, dass das ganze intellektuelle Gebäude der Finanzwissenschaft kollabiert. Aus der Perspektive des Kulturkritikers beschreibt er, wie immer mehr Entscheidungsbefugnisse vom Staat und den Regierungen auf unüberschaubare Finanzmärkte und andere nicht demokratisch legitimierte Akteure, Agenturen und improvisierte Expertengremien übergegangen sind. Dies führt zu Demokratiedefiziten und Souveränitätsverschiebungen bei gleichzeitig unverhältnismäßig großen Einflussmöglichkeiten von Finanzspekulanten.
Am Dienstag, den 17.11., von 17 Uhr bis 19 Uhr, findet im Goethe-Institut (Av. Corrientes 343) bei freiem Eintritt die Veranstaltung “Der Souveränitätseffekt: Regierbarkeit, Schuldenkrise und Finanzmärkte” statt, in deren Rahmen Joseph Vogl mit José Natanson und Gabriela Massuh diskutiert. Aus organisatorischen Gründen wird um Anmeldung gebeten (info@buenosaires.goethe.org).
Wer es ist der wahre Souverän im modernen Staat? Joseph Vogl antwortet: “Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert.”
Joseph Vogl, geboren 1957 in Eggenfelden, Niederbayern, ist heute einer der einflussreichsten und meistgefragten Philosophen und Kulturwissenschaftler. Diese Bedeutung erlangte er spätestens nach der Veröffentlichung der zwei Teile seiner, wie er es selber nennt, “historisch-spekulativen” Abhandlung über politische Ökonomie, einer historisch-literarischen Darstellung der ökonomisch grundierten politischen Verfasstheit unserer Gegenwart.
Im ersten Teil seiner Untersuchung, “Das Gespenst des Kapitals”, den das Verlagshaus Cruce dieses Jahr in der spanischen Übersetzung von Florencia Martín veröffentlichen wird, schildert Vogl die Erklärungsmodelle der klassischen, neoklassischen und liberalen Wirtschaftstheorien als einen Komplex von Illusion, sozialer Utopie und bürgerlicher Moralkonzeption, der dazu geführt hätte, dass alle Aspekte des Lebens und der Gesellschaft unter rein ökonomischen, finanziellen Gesichtspunkten gesehen und bewertet würden. Nach Vogl ist die geltende Lehre in den Wirtschaftswissenschaften nicht in der Lage, eine plausible Erklärung für die Finanzkrisen der letzten Jahre zu liefern. Man wollte in Spekulationsblasen und Crashs bloße Anpassungskrisen oder jene Ausnahmesituationen erkennen, die im irrationalen Überschwang eines vielleicht gierigen, vielleicht inkompetenten oder schlicht rücksichtslosen Spekulationswesens gründen.
Im zweiten Teil, “Der Souveränitätseffekt”, untersucht Vogl die Frage, wo sich heute politische Entscheidungs- und Handlungsmacht formiert. Denn “man kann feststellen, dass in einem engen Austauschverhältnis von ökonomischen Akteuren und politischen Institutionen, sehr viele Entscheidungen gefällt werden, die die Gesellschaft insgesamt betreffen”, sagt der Kulturwissenschaftler. Er versucht zu zeigen, inwieweit gerade das moderne Finanzsystem nur durch eine enge Symbiose von politischer und ökonomischer Macht entstehen konnte.
Der Essayist verfolgt die Wechselbeziehungen zurück bis zum frühen Mittelalter. Unter anderem erläutert er die Entwicklung der wichtigsten Zentralbanken in Europa seit dem 17. Jahrhundert und der Federal Reserve Bank in den USA im Jahre 1913 als hybride Organisationen und Vermittler zwischen öffentlichen und privaten Interessen. Und er kritisiert die zunehmende Übertragung von Souveränität durch Verschiebung von wirtschaftlichen Entscheidungen und wirtschaftlicher Macht hin zu demokratisch nicht legitimierten Instanzen wie der “Troika” (bestehend aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds), die zur Lösung der Finanzkrise in Europa gebildet wurden.
Joseph Vogl studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Sein Interessens- und Forschungsschwerpunkt ist die Schnittstelle zwischen Literatur, Geschichte und Wissensgeschichte, besonders der Medientheorie und der Literaturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert. 1984 erwarb er den akademischen Grad des Magister Artium an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er 1990 im Fach Neuere deutsche Literatur promovierte. Im Jahr 1999 wurde Vogl Professor für Geschichte und Theorie künstlicher Welten an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. 2001 habilitierte er sich im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Seit dem 1. April 2006 hat Vogl die Professur für Neuere deutsche Literatur: Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität Berlin inne. Von 2001 bis 2002 war er Gastprofessor am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Seit 2007 ist er Professor an der Germanistikabteilung der Princeton University.
Vogl verfasste mehr als hundert wissenschaftliche Artikel und Buchbeiträge zu den Themengebieten deutsche Literatur, Literaturtheorie, Medien, Wissensgeschichte und Politische Philosophie. Zu seinen letzten Arbeiten (veröffentlicht im Diaphanes-Verlag) zählen “Über das Zaudern” (2007), “Soll und Haben. Fernsehgespräche” (2009, mit Alexander Kluge), “Das Gespenst des Kapitals” (2015) und “Der Souveränitätseffekt” (2015), nominiert auf der Short List des Literaturpreises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch.
Joseph Vogl lebt und arbeitet in Berlin.
Foto:
Joseph Vogl.
(Foto: Goethe-Institut)