Der Abschweifer
BAFICI-Nachlese: Einige Gedanken zu den Filmen des Schweizers Peter Liechti
Von Valerie Thurner
Am 18. April ist das 12. BAFICI, das Festival für Independent-Kino von Buenos Aires, zu Ende gegangen, in dessen Rahmen dem Schweizer Filmemacher Peter Liechti eine Retrospektive gewidmet war. Dem interessierten Publikum stellte er seine wichtigsten Filme vor und erläuterte bei einem Gespräch und einer exklusiven Masterclass für die Teilnehmer des “Talent Campus” seine Thesen zur Filmkunst. Als routinierter Festivalgast kennt Liechti die Gefahren von solchen Veranstaltungen, sie drohen oft mangels vorgegebenem Fokus in oberflächliche Rundumschläge auszuarten oder in einem zumindest in der Schweiz verbreiteten Klagen über das fehlende Geld, die bürokratischen Papierkriege für den Produktionsplan, etc.
Bei hiesiger Gelegenheit redete man erfreulicherweise nicht ein einziges Mal über das Geld, sondern über die Kunst. Auf die Frage, warum denn das Schweizer Kino nicht bekannter sei in Argentinien oder gar weltweit, meinte Liechti sehr trefffend: “Das Privileg der Schweiz ist auch eine Wand zwischen uns und der Welt. Wir sind in der Schweiz sehr isoliert, nehmen an vielen großen Weltgeschehen nur bedingt teil, und so sehen auch viele Filme aus.” Nicht aber seine, die nehmen sehr wohl Teil an der Komplexität des Lebens, sind engagierte, persönlich motivierte Reisen voller Abschweifungen, die Themen und Schauplätze oft assoziativ umkreisen, immer mit einer großen Offenheit gegenüber dem Unvorhersehbaren. Diese Haltung macht seine Filme zu einzigartigen Erlebnissen, dicht, humorvoll, poetisch.
Liechtis Filme verfolgen dabei immer einen roten Faden, einmal ist es eine Reise von Musikern durch Afrika (“Namibia Crossing”, Roadmovie/Essay 2004), mal das Tagebuch eines zum Hungertod Entschlossenen (“Das Summen der Insekten – Bericht einer Mumie”, Essayfilm 2008), der eigene Versuch, mittels eines Fußmarschs von Zürich zu seiner Geburtsstadt St. Gallen das Rauchen aufzugeben (“Hans im Glück – 3 Versuche, das Rauchen aufzugeben”, Dokumentarischer Essay 2003). Auch begleitet er gerne befreundete Künstler in seinen Filmen: So entstanden das sehr sensible Porträt seines langjährigen Freundes Roman Signer, der inzwischen in der Kunstszene ein Weltstar ist (“Signers Koffer”, Dokumentarfilm 1996) oder der sehr spezielle Musikfilm “Hardcore Chambermusic – ein Club für 30 Tage” (2006).
Kategorien schränken ein
Liechti möchte im klassischen Sinne Dokumentarfilme machen, er grenzt sich bewusst von den Genrefundamentalisten ab, wie er selbst sagt. Seine Filme verflechten und verdichten fiktionale Elemente mit dokumentarischem Material, und es funktioniert so gut, dass die Frage der kategorischen Zuordnung unwichtig wird.
Die Geschichten, die er findet, sind mitten aus dem Leben gegriffen, denn vorgefundene Geschichten sind oft verrückter und spannender als erfundene. Das Vorgefundene und die eigenen Erfahrungen bilden das Reservoir, aus dem Liechti seine Geschichten schöpft. Er hat nicht wie viele Dokumentarfilmer den Willen und Glauben, mit seinen Filmen die Realität zu zeigen: “Ich sage nie ‘That’s it’!” Die Filmerei sei seine Art und Weise, über das Leben nachzudenken. Es sind Reisen, motiviert durch seine eigene Neugier, eine Spur zu verfolgen, um den unzähligen Geheimnissen des Lebens näherzukommen. Er wolle nie wissen, was genau am Ende dabei rauskomme, das würde ihn sonst langweilen und der Film würde hinfällig.
“Hans im Glück” ist eine ironisch-melancholische Selbstbefragung als filmische Methode, und so ist die Struktur geprägt durch eine thematische Konzentration, die im Verlauf des Films mehr und mehr um grundsätzliche Fragestellungen zu Leben und Tod kreist. Dieses Abschweifen ist ein Charakteristikum Liechtis und ein Privileg des Kleinunternehmers im Filmgeschäft, der sich nicht an ein vorweg durchgeplantes Drehbuch halten muss. Ob aus einem jeweiligen Projekt eine Komödie, ein Melodrama oder ein stinklangweiliges Misslingen resultiere, das weiß er nie im Voraus, und das ist auch jedesmal von Neuem das Risiko – ein Risiko, das leider immer weniger Filmprojekte wegen kommerziellen Sicherheitsdenkens tragen wollen oder können. Dieses Risiko zu tragen, ist Genuss und Leiden zugleich, und es kommt dem Anspruch an das Independent-Kino sehr nahe. Liechti arbeitet so unabhängig wie möglich, was eben auch bedeutet, dass er sehr viel selbst macht, von der Produktion über Buch und Regie, und in sehr kleinen Teams arbeitet.
Eine experimentelle Versuchsanordnung
Was heißt schon Independent-Kino? Eigentlich ist es ein unsinniger Begriff, der sich in der Industrie, in der Produktion sowie im Verleih und der Festivalwelt durchgesetzt hat. Independent-Kino definiert lediglich jenes Arthouse Kino abseits der großen, auf Genre spezialisierten Studioproduktionen. Auch ohne klares Storyboard sind Liechtis Filme fernab von dem unverbindlichen “Anything goes”. Sie unterliegen klaren konzeptionellen Strukturen. Die bewährte Methode für die Umsetzung einer filmischen Erzählung ist der klar definierte Rahmen, oft ein bestimmter zeitlicher Rahmen oder ein Prozess, der das strukturelle Regelwerk und die mentale Disposition vorgibt. Innerhalb dieser Versuchsanordnung passiert dann eine intensive Auseinandersetzung mit einem bestimmten Prozess, wo auch viel Raum für Improvisation besteht; vergleichbar mit einem Musiker, der sich zwar an die Akkordabfolge halten muss, in der Wahl der Melodie und der Phrasierung jedoch frei ist. Die Kunst der Improvisation generell, sei es im Theater, im Film oder der Musik, des Tanzes, ist eine Energie, die den Künstler wach und neugierig hält, ein Rezept gegen dumpfe Routine, durchgeplante Filme, deren kreativer Prozess eigentlich mit der Drehbucheingabe abgeschlossen ist.
Unkonventionelle Künstlerporträts
“Hardcore Chambermusic” und “Signers Koffer” sind beides keine konventionellen Künstlerporträts. Es sind sensible und dichte Annäherungen an die Kunst. Liechtis Suche nach zeitgemäßen Ausdrucksformen und sein Interesse am kinematografischen Experiment führten schließlich zu seinem ersten international gefeierten Meisterwerk “Signers Koffer” (1996), das Porträt des Ostschweizer Künstlers Roman Signer, der für Liechtis filmisches Werk von überragender Bedeutung ist (nicht nur durch seine häufige Präsenz darin). Roman Signer ist inzwischen ein Weltstar in der Kunstszene. Liechti begleitete Signer während mehreren Jahren bei seinen Aktionen von Island über Stromboli, im Appenzell oder nach Polen. Der Film fängt das Wesen von Signers Kunst ein, nämlich skulpturale Momentaufnahmen mit einer sehr kurzen Lebensdauer. Vergängliche Augenblicke, fotografische Momente werden durch den Film um eine zusätzliche Dimension erweitert. Auch wird der Mensch Roman Signer sehr spürbar, was auf die langjährige Freundschaft zwischen den beiden Ostschweizern zurückzuführen ist. Seine Verspieltheit, die kindliche Neugier und Experimentierfreude, aber auch seine Scham und Zweifel werden transparent.
“Hardcore Chambermusic” begleitet die 30-tägige Konzertreihe eines Schweizer Improvisationstrios, die während eines Monats allabendlich in einem provisorischen Club in Zürich auftraten. Der Film untersucht die Beziehung zwischen dem Publikum und der improvisierten Musik. Improvisation kämpft mit dem Vorurteil der Kopflastigkeit, das wollte Liechti widerlegen. Am Ende der 30 Tage tanzt das Publikum am Schluss zu dieser nicht ganz einfachen Musik des Trios. “Der Film war die Herausforderung, nicht nur ein musikalisches Highlight nach dem andern zu zeigen, wie das oft bei Musikfilmen geschieht, sondern auch die manchmal ruhigen und frustrierenden Phasen zu beleuchten, die zu diesen Highlights führten.”
Die Essenz von Liechtis Filmkunst ist, dass er sich auf einen nicht planbaren Prozess einlässt, in dem assoziativ ein Gedanke zum nächsten führt, mal aus Erinnerungen, mal aus Beobachtungen, und das Abschweifen wieder zum roten Faden des Projekts führt. Seine Filme leben von dieser besonderen Energie des gedanklichen Mäanderns, ein Stück Freiheit in unserer durchregulierten Welt.
Die Filme von Liechti und alle Informationen hier.