Emotionale Zeitreise

“Las Multitudes” von Federico León ist vom 16. August bis 14. September wieder im Centro Cultural San Martín zu sehen

Von Susanne Franz


Es ist ein Theatererlebnis der besonderen Art. In seinem Werk “Las Multitudes”, das ab morgen – und bis zum 14. September – im Saal AB des Centro Cultural San Martín gezeigt wird, arbeitet der junge argentinische Theater- und Kinoregisseur Federico León mit 120 Schauspielern, mit Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen, älteren und alten Menschen. Er schrieb das Werk, nachdem er probeweise an einem Wochenende mit einer Gruppe von 100 Schauspielern zusammengekommen war, damit er sich die Wirkung einer solchen Masse vorstellen konnte.

In “Las Multitudes” bewegen sich die Menschen meistens im Schutz ihrer Altersgruppe, eine Ausnahme bilden die Familien mit Kindern, die aber keine größere Bedeutung im Stück haben. León sagt: “Sie sind nicht direkt in das Drama der Liebe involviert”, wie die anderen, die die “Hauptrollen” spielen: Die beiden Gruppen der jugendlichen Männer und Mädchen, die das Potenzial für die Zukunft, Idealismus, Sehnsucht und die Suche nach Liebe verkörpern, und die beiden Gruppen der alten Männer und Frauen, die Lebenserfahrung, Weisheit und Verzeihen symbolisieren, die aber auch auf eine berührende Weise “Kindsköpfe” sind.

Die jungen Erwachsenen sind bereits gespalten: Während die jungen Männer sich noch für die jüngeren Mädchen interessieren, bauen die jungen Frauen mit ihnen schon an der Zukunft, der Familie. Hier herrscht noch eine Sehnsucht zurück in die Unberührtheit, während zugleich Zwänge, die die unerbittliche Zeit vorschreibt, nach vorne drängen.

Das Stück weist nur wenige Dialoge auf und verwendet bewusst eine einfache Sprache, die Akteure intonieren verhalten, wie in einem Traum. Mehr als Worte sind in dem Werk die Bewegungsströme der verschiedenen Gruppen von Bedeutung, die Art, wie die Akteure über die dunkle, fast völlig leere, riesige Bühne laufen, gehen, rennen, tanzen oder schreiten.

Die sehr sparsame, indirekte Beleuchtung – teils durch Spots, teils durch Taschenlampen, die die Schauspieler tragen -, hebt nur selten Gesichter aus der Masse hervor, eher zeichnet sie geheimnisvolle Muster auf die helle Kleidung der Mitwirkenden oder setzt da Akzente, wo sie gänzlich “ausgeschaltet” wird.

Ein machtvollerer Faktor als das Wort ist auch die Musik (Federico León arbeitete in “Las Multitudes” erstmals mit einem Musiker, Diego Vainer, zusammen). Vom intensiven Raunen einer Gruppe Frauen nach einem Tanz über eine geheimnisvolle Melodie, die die alten Frauen den jungen weitergeben, bis zu einem melancholischen Duo mit Gitarre und Mundharmonika und sogar einem echten Rockkonzert ist die Musik der stärkste emotionale Träger des Werkes.

Zu Beginn ist die Menschenmenge in “Las Multitudes” heterogen, die einzelnen Gruppen sind untereinander zerstritten oder suchen einander, sind aber immer zur falschen Zeit am falschen Ort. Erst im Laufe des Stückes kommen die Menschen zusammen, fechten ihre Zwistigkeiten aus oder lösen sich schon mal aus ihrer Gruppe, um einem anderen Einzelnen allein zu begegnen.

Parallel dazu wird das Publikum, das als anonyme Masse der Schauspielergruppe gegenübersteht, zusehends in das Geschehen hineingezogen und schließlich zu einem Teil der Geschichte. Diese magische Kommunikation wird mit den scheinbar einfachsten Mitteln erreicht – kein Pathos trennt den “vortragenden” Schauspieler vom Zuschauer, der Humor ist nie manipulativ, sondern eher Situationskomik, mit der sich jeder identifizieren kann. Die Zuschauer können sich in dem Werk, das für jedes Alter geeignet ist, selbst wiederfinden, z.B. in einer der Altersgruppen, oder sie können sich zurückerinnern, oder sich die Zukunft vorstellen, oder alles gleichzeitig. Jeder fügt im Stillen seine eigene Geschichte, sein eigenes Potenzial, dem Werk hinzu.

“Las Multitudes” ist in gewisser Weise eine Zeitreise: Ein Trip durch ein (oder in ein) Raum-Zeit-Kontinuum, in dem die Zeit stehenzubleiben scheint, weil alle Zeiten gleichzeitig nebeneinander existieren, und in dem die Bewegungen der vielen Menschen im Raum auch deshalb eine so starke Wirkung haben, weil hier eigentlich gar keine Bewegung stattfinden dürfte.

In diesem paradoxen Universum gibt es so etwas wie einen Fixstern: Einen besonderen Schauspieler, der sowohl die Menge auf der Bühne als auch das Publikum steuert: Julián (gespielt von dem hervorragenden Schauspieler Julián Zuker) ist ein Kind auf der Schwelle zum Jugendlichenalter, der einzige, der als “isoliertes” Individuum auftritt. Die Figur Julián wurde von dem Werk selbst geboren, Federico León hatte sie zunächst nicht vorgesehen. “Julián ist derjenige, der das alles träumt, der, der die Fäden zieht”, sagt León über diesen kleinen Magier, der die “Multitudes” erklingen lässt wie ein Dirigent, der ein Orchester leitet.

Das sehr empfehlenswerte Werk wird ab Donnerstag, 16. August, im Saal AB des Centro Cultural San Martín (Sarmiento 1551, Buenos Aires) wieder aufgeführt, und ist bis zum 14. September donnerstags, freitags und samstags um 21 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 60 Pesos (donnerstags 40); Karten gibt es an der Kasse des Centro Cultural San Martín oder bei www.tuentrada.com. Für gebrechliche oder anderweitig behinderte Menschen ist extra vorne eine Reihe Stühle aufgestellt.

Im Oktober ist das Stück Teil des Programms des IX. Internationalen Theaterfestivals von Buenos Aires.

Das Stück:
Federico Leóns Theaterwerk “Las Multitudes” feierte Ende Juli 2012 im experimentellen Werkstatt-Theater TACEC in La Plata, Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, seine Weltpremiere. Ende September wurde das Werk im Rahmen des internationalen Theaterfestivals “Foreign Affairs” in Berlin gefeiert; neben einigen Argentiniern aus dem Stamm-Ensemble machten dabei auch zahlreiche deutsche Schauspieler mit. Im November und Dezember 2012 wurde “Las Multitudes” mit großem Erfolg im Centro Cultural San Martín in Buenos Aires gezeigt.

Nach der Spielzeit 2013 vom 16. August bis 14. September im Centro Cultural San Martín wird “Las Multitudes” nach Österreich reisen, wo es am 10., 11. und 12. Oktober im Rahmen des Festivals Steirischer Herbst aufgeführt wird. Zwei Wochen vor Beginn der Vorstellungen wird Federico León das Werk vor Ort mit 13 argentinischen Ensemble-Mitgliedern und 107 österreichischen Schauspielern einstudieren.

Foto:
Miteinander oder gegeneinander? Eine Szene aus “Las Multitudes”.
(Foto: Sebastián Arpesella)

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