Vergangenheitsbewältigung – heute (2002)

Die Künstlerin Silvina Der-Meguerditchian arbeitet über den Genozid am armenischen Volk und ihre eigene Geschichte

Von Susanne Franz


Der Granatapfel als Symbol der armenischen Identität.

In einem Seminar über die armenische Identität, das die 1967 in Argentinien geborene armenischstämmige Künstlerin Silvina Der-Meguerditchian in Berlin besucht, wo sie seit 14 Jahren lebt, hat ein Satz von Krikor Beledian sie besonders berührt: „Die nationale Katastrophe hat offensichtlich die Übermittlung von Lebensregeln unmöglich gemacht. (…) Unter dieser Voraussetzung wird die Identität gleich einer „leeren Identität”, strukturlos, fragmentarisch, zerstreut.”


„Flucht”.

Die Fragmentierung der Identität ist eines der zentralen Themen im Werk Silvina Der-Meguerditchians – und die Fragmentierung der Erinnerung.

Mit Fragmenten begann sie im Jahr 2001 zu arbeiten, mit Fotos und Dokumenten der Flucht ihrer armenischen Großeltem, Überlebende des Massakers, bei dem im Jahr 1915 eineinhalb Millionen Armenier von den Türken in einem beispiellosen Blutbad abgeschlachtet und ausgerottet wurden. Während die Ost-Armenier auf russischem Gebiet sich unter den Schutz des russischen Staates begeben hatten, wurden die West-Armenier ermordet oder vertrieben, um dann, in aller Welt verstreut, in der Diaspora zu leben. Die Großeltern flohen erst nach Paris, dann, aus Angst vor einem zweiten Weltkrieg, nach Argentinien.

Bilder des Massakers, Wörterbuchausschnitte, geschriebene Worte wie „Wut” und „Angst”, die in Kontrast treten mit wunderschönen Symbolen der armenischen Kultur, oder Zeichnungen hat Silvina Der-Meguerditchian eingescannt und auf Folien projiziert, um diese dann durch gehäkelte Wollstreifen locker miteinander zu verbinden und zu Teppichen zu vereinen. Diese von der Decke herabhängenden luftigen Erinnerungsteppiche symbolisieren ihre Hoffnung und ihren Horror, ihre Träume und Alpträume. Die Häkelmaschen versinnbildlichen ihren Wunsch nach Einheit.

„Meine armenische Identität, die armenische Identität an sich besteht aus Fragmenten. Das fand ich bislang bequem. Die Juden haben ein geschriebenes Gesetz: Erinnere dich! Bei den Armeniern ist das nur unterschwellig vorhanden. Aber es ist da”, erklärt Silvina. Ihrer Meinung nach ist es „Zeit, dass wir uns mit unserer Vergangenheit beschäftigen, dass wir eine Lösung finden”. Die Künstlerin sieht diese Lösung so: Man muss sich erinnern, aber nicht Opfer sein.


„Verdrängung”. Detail.

Die armenische Gemeinschaft in Argentinien hat ihrer am 2. August 2002 im Saal 14 des Centro Cultural Recoleta eröffneten Ausstellung „La textura de la identidad” großes Interesse entgegengebracht. „Es reicht nicht mehr, dass die Diaspora-Armenier ihre Sitten und Gebräuche bewahren und erhalten”, erklärt sich Silvina diesen Enthusiasmus. „Es ist nötig, dass die Problematik mit modernen Mitteln aufgegriffen wird, mit einer Sprache des Heute.”

Die Installationen Silvina Der-Meguerditchians leisten einen mehr als eindrucksvollen Beitrag zum Thema Vergangenheitsbewältigung. Traumwandlerisch sicher bedient sich die Künstlerin einer modernen Sprache, die Respekt und Trauer, Aufbegehren und Wut, aber auch die Bereitschaft zu verzeihen ausdrückt – zu verzeihen, ohne zu vergessen oder sich in Legenden zu flüchten.

Der Artikel erschien am 10.8.2002 im „Argentinischen Tageblatt”.

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