Findet der, der sucht?

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Der argentinische Künstler José Luis Anzizar bei der Berliner Ausstellung „Der Freie Wille“

Von Susanne Franz


Projektentwurf für „11.9-9.11“.

José Luis Anzizar war 26, als er im Jahr 1988 zum ersten Mal nach Europa flog. Die Reise ging nach Holland, zur Hochzeit eines Freundes. Neben ihm saß ein junger Mann, der trotz der Hitze im Flieger seine Jacke die ganze Zeit über anbehielt. Es war das Ende der Alfonsín-Ära, und viele Argentinier verließen ihr krisengeschütteltes, hyperinflationäres Land. „Mir wurde plötzlich bewusst, dass der Mann wahrscheinlich sein ganzes Geld am Körper trug“, erinnert sich José Luis. „Ob das jetzt 100 oder 1000 Dollar waren, spielt keine Rolle. Ich fühlte mich plötzlich schlecht, weil ich zu einer Hochzeit unterwegs war, zu meinem eigenen Vergnügen, aus meiner eigenen Entscheidung heraus. Es gab so viele andere, die keine Wahl hatten.“

Auch nach der Krise vom Dezember 2001 verließen wieder tausende Argentinier ihre Heimat, um in den USA oder Europa ihr Glück zu versuchen. „Und was ist dann, wenn man einmal auf der anderen Seite ist? Findet man wirklich das vor, was man erwartet oder erhofft hatte? Hat die Realität etwas mit dem vom Marketing verkauften Image zu tun?“ fragt sich José Luis.

An die Geschichte des Mannes mit der Jacke musste José Luis Anzizar denken, als er sich mit einem Projekt um die Teilnahme an dem internationalen Ausstellungsprojekt „Der Freie Wille“ bemühte. „11.9-9.11“ heißt seine Arbeit, mit der er ausgewählt wurde, zusammen mit 19 anderen Künstlern bzw. Künstlergruppen seine Vorstellungen und Visionen zum Thema „Der Freie Wille“ im unterirdischen Bunker auf dem ehemaligen Todesstreifen Berlin Treptow zu zeigen.

Da diese besondere Schau zeitgenössischer Kunst anlässlich der 20-Jahres-Feiern der sogenannten Glasnost stattfinden – das „Tauwetter“, das der politischen Wende von 1989 vorausging – wird die Ausstellung am 15. Juni im Beisein von Michail Gorbatschow eröffnet.

Am 9.11.1989 fiel die Berliner Mauer, der Kalte Krieg war beendet, Ost und West begannen sich anzunähern. Ob aber diejenigen, die mit ihrem mutigen friedlichen Protest die Wende erreicht hatten, die Freiheit vorfanden, die sie erträumt hatten, ist fraglich. Konsumgüter und Versprechungen von „blühenden Landschaften“ waren ein schlechter Ersatz in der Ellbogen-Realität der westlichen Welt.

Am 11.9.2001 (9/11 für die Amerikaner) wurde das World Trade Center von Selbstmordattentätern zerstört, es gab tausende Opfer. Der Schock über die eigene Verletzlichkeit führte neben einer fragwürdigen präventiven Außenpolitik der USA auch zu einer dramatischen Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen und Einreiseregelungen. Auch das Visa-Waiver-Programm, das es vielen Argentiniern ermöglicht hatte, (illegal) in die USA einzureisen, wurde abgeschafft.

Mit den Koordinaten „11.9-9.11“ stellt José Luis Anzizar das Ost-West/Nord-Süd-Gefälle dar. Vier Flughäfen sind durch Rollbahnen miteinander verbunden: Tegel/Westberlin und Schönefeld/Ostberlin auf der West-Ost-Achse; John F. Kennedy/NY und Ezeiza/BA auf der Nord-Süd- (um nicht zu sagen „Oben-Unten-“) -Achse. Die reichen westlichen Flughäfen sind mit vielen bunten Illustrationen versehen, dagegen sind der arme Osten und Süden eher grau. In das Werk sind die unterschiedlichsten Daten zu den Flughäfen eingearbeitet, aber auch andere Informationen wie das Bruttosozialprodukt der betreffenden Länder, etc.


Die Stewardess Reina soll die Besucher nerven.

Ergänzend zu dem Werk an der Bunkerwand präsentiert José Luis Anzizar eine Performance: Reina, südamerikanisch-kitschig gekleidete Stewardess (von ihm selbst dargestellt) lässt die Besucher Einreiseformulare ausfüllen (wobei sie Fragen wie „Erste oder dritte Welt?“ bzw. „Wie oft essen Sie? Einmal am Tag?/Einmal in der Woche?“ beantworten sollen).

Reina wird darüber hinaus Demonstrationen zur Flugsicherheit geben, wobei die Atemmaske eine mit einem Gummiband befestigte Orangenhälfte ist. Natürlich wird den Ausstellungsbesuchern frischer Orangensaft geboten, den Reina an ihrem wackligen Schreibtisch selbst auspresst.

Die lächerliche Figur der südländischen, aufdringlichen Stewardess, die den Leuten „die Einreise schwer machen soll“, soll auf die Schwierigkeiten vieler Menschen hinweisen, die (umgekehrt) in die westliche Welt gelangen wollen – und dort die Erfüllung ihrer Träume und das Ende ihrer Probleme erhoffen.

Kunst im Bunker

Der aus dem 2. Weltkrieg stammende Bunker und Ausstellungsort von „Der Freie Wille“ befindet sich auf dem ehemaligen „Todesstreifen“ der Berliner Mauer, welche an dieser Stelle die Stadtteile Kreuzberg von Treptow trennte. Den Bunker durchzieht eine unterirdische Mauer, welche Fluchtversuche durch den Flutgraben/Spree nach West-Berlin verhindern sollte.

Die Kuratoren – Nina (*1978 in Moskau als N. Tangian) und Torsten (*1968 in Aachen) arbeiten seit 1998 unter dem Namen Römer & Römer als deutsch-russisches Künstlerpaar in allen ihren Projekten zusammen. 1999 riefen sie das unabhängige internationale Kunstprojekt MAIS ins Leben. Seitdem veranstalteten sie mehrere große Ausstellungen (Bunker in Köln und Berlin, Biennale Liverpool).

Die Ausstellung ist vom 15. Juni bis 31. Juli 2005 geöffnet (Bunker unter der arena Berlin, Eichenstr. 4, 12435 Berlin Treptow).

Teilnehmende Künstler: Addicted Spass, Elena Afanasyeva & Maksim Afanayev, José Luis Anzizar, Sabine Beyerle & David Reuter, Silvina Der-Meguerditchian, Extrastruggle, Freies Radio für Berlin, Roland Fuhrmann, Anna von Gwinner, Levin Haegele, Jason Horncastle, Ruprecht von Kaufmann & Johannes Herberstein, Alexei Kostroma, Clemens Krauss, Jakob Kreutzfeldt, Xavier Krylik-Chavigny, Edgar L., Victor Libet & Stefan Schemat, Martina Lunzer, Matthias Mayer aka Mo Magic, Nongrata, PRO:OHM, Römer & Römer, Markus Schäfer & Roland Butzelar, Nadja Schöllhammer, Dominik Schumacher, Victor Tenorio Arias & Frédéric Louis Fourrichon, Sergej Voronzov, Brigitte Waldach.

Der Artikel erschien am 11.6.2005 im “Argentinischen Tageblatt”.

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