Künstlerblicke auf Land und Leute

Buenos Aires und die Pampa werden in den Werken von Benito Quinquela Martín, Xul Solar, Antonio Seguí und Florencio Molina Campos lebendig

Von Susanne Franz, 2006

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Hafenstimmung: “Atardecer rosado” (1969) von Benito Quinquela Martín.

Der Maler Benito Quinquela Martín war von dem Hafenviertel “La Boca” geprägt und prägte es selber mit. Alejandro Xul Solar hatte seinen Kopf in den Wolken, aber seine Füße fest auf dem Boden seiner Heimatstadt Buenos Aires. Antonio Seguí schaut ein bisschen böse, ein bisschen wehmütig auf sein Heimatland, das er schon vor über 40 Jahren verließ, um sich in Paris niederzulassen, und Florencio Molina Campos hat wie kein anderer meisterhaft das Leben der Gauchos in der Pampa und die unendliche Weite ihres Horizonts porträtiert.

Benito Quinquela Martín – der Maler von “La Boca”

Benito.jpgIm romantischen Hafenviertel von Buenos Aires “La Boca”, das Tag für Tag Hunderte von Touristen mit seinem bunten Sträßchen “Caminito”, Tangoschauen, Straßenkünstlern und seinen mit originellen Souvenirs und Kunstwerken bestückten Märkten verzaubert, begegnet man dem “Maler von La Boca”, Benito Quinquela Martín, auf Schritt und Tritt. Bis heute einer der populärsten Künstler Argentiniens, prägte Quinquela Martín (1890-1977) mit seinem Lebenswerk das Gesicht des beliebten Hafenviertels entscheidend mit – allenthalben sieht man in den Straßen von ihm gestaltete Keramiken und Wandgemälde; verkaufen Künstler von ihm inspirierte Gemälde, und nicht zuletzt befindet sich das von ihm gegründete “Museo Quinquela Martín” mitten im Herzen von “La Boca”. Hier kann man nicht nur die beeindruckenden Gemälde des Künstlers selbst bewundern, die er seinem Viertel als Geschenk überreichte, sondern auch eine Sammlung von Werken anderer Künstler der “Boca”, die auf Quinquelas ausdrücklichen Wunsch mit in das Museum aufgenommen wurden.

Vom Waisenkind zum populären Künstler und Philanthropen

Die Geschichte des Benito Quinquela Martín rührt ans Herz. Am 20. März 1890 wurde das von seinen Eltern verlassene Kind von Ordensschwestern gefunden, die ihn auf den Namen Juan Benito Martín tauften und sein Alter auf ungefähr 20 Tage einschätzten. In der von einer starken Einwanderung und hoher Arbeitslosigkeit geprägten Zeit wurden bis zu drei Kinder pro Tag in Buenos Aires ausgesetzt, die meisten verbrachten ihr Leben im Waisenhaus oder starben jung. Der kleine Juan Benito lebte 7 1/2 Jahre im Waisenhaus – die Ordensschwestern gaben die Kinder erst mit sechs Jahren, also im arbeitsfähigen Alter, zur Adoption frei – und wurde dann von dem kinderlosen Ehepaar Manuel Chinchella und Justina Molino adoptiert. Mit 14 Jahren begann er zu arbeiten und besuchte abends eine Kunstschule.

Schon bald kristallisierte sich sein großes Talent heraus und er verlegte sich ganz auf das Studium der Malerei. Zunächst malte er Porträts der Menschen seines Viertels, bis er begann, sich seinen berühmten Hafenszenen zu widmen. Im Alter von 29 Jahren änderte er seinen Namen in Benito Quinquela Martín um. Die Güte, die er von seinen Adoptiveltern empfangen hatte, mit denen er bis an ihr Lebensende zusammenlebte, zahlte er später vielfach zurück: Er gründete eine Schule, einen Kindergarten, ein Haus, in dem Ammen ausgesetzte oder arme Kinder stillten, eine Kunstschule für Kinder und ein zahnärztliches Institut für die Armen. Er selbst hatte sein Leben lang unter seinen schlechten Zähnen gelitten.

Aus dem Vertrauten neue Welten schaffen

Benito Quinquela Martíns Gemälde lassen das Leben und die Atmosphäre des Hafenviertels – das Universum, von dem er umgeben war – unmittelbar auferstehen: die emsige Betriebsamkeit der Hafenarbeiter beim Be- und Entladen der Schiffe, die Arbeit in den umliegenden Gießereien oder Kohlefabriken, die Schiffe vor Anker oder in der Werft, die Kräne, Fluss- oder Hafenlandschaften zu den verschiedensten Tages- oder Nachtzeiten. Voller Farbenfreude, mit kräftigem Pinselstrich oder energisch aufgetragenem Spachtel, fing Quinquela Martín die Nuancen des Lichts, des Himmels, des Wassers, des Nebels, der Bewegungen und Energien seines Universums ein. “Hier fiel mir alles leicht”, schrieb er über das Thema seiner Malerei, “die Atmosphäre und die Dinge hatten sich über Jahre hinweg auf meiner Netzhaut eingebrannt, es gab nichts, was mir nicht vertraut gewesen wäre, ich wusste, wie sich jeder kleinste Muskel beim Beladen oder Entladen bewegte; alles ging wie von selbst, weil ich die Strukturen kannte.”

Xul Solar – Mystiker mit Wurzeln im Tigre-Delta und Palermo

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Die Stadt als Symbol: “Ciudá y abismos” (1946) von Xul Solar.

Ein Universum für sich ist der argentinische Mystiker und Künstler Xul Solar. Sein Werk ist sicher das am schwersten zugängliche in der argentinischen Kunst, in seiner Komplexität und Rätselhaftigkeit am ehesten vergleichbar dem seines Freundes und weltberühmten Literaten Jorge Luis Borges. Dennoch findet man auch im Werk Xuls ständige Referenzen seiner Heimatstadt Buenos Aires, vor allem des malerischen Tigre-Deltas, wo er seine ersten Lebensjahre verbrachte und auch seine letzten – von 1956 bis zu seinem Tod im Jahre 1963. Xuls düstere, futuristische Berglandschaften mit endlosen Treppen und Leitern und in Kaminen verschwindenden Menschen, die er unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs malte, entlehnte er dem riesigen Gefängnisbau “Penitenciaría Nacional” im Stadtteil Palermo, in dem sein Vater viele Jahre als Ingenieur arbeitete. Die gelben Mauern des Gefängnis-Kolosses, der 1963 abgerissen wurde, hat das Werk vieler Künstler und Literaten inspiriert – u.a. auch die Geschichten von Don Isidro Parodi, der Kriminalfälle von einer Zelle dieser Gefängnisanstalt aus löste, die Borges und Adolfo Bioy Casares unter dem Pseudonym H. Bustos Domecq schrieben.

Ein Intellektueller seiner Zeit

Xul2.jpgXul Solar wurde 1887 in Buenos Aires als Oscar Agustín Alejandro Schulz Solari geboren. Er war einziges Kind eines lettischen Vaters und einer italienischen Mutter. Ein Architekturstudium brach er nach zwei Jahren ab, und er lernte das Geigenspiel. Wie viele junge argentinische Intellektuelle der Zeit, verbrachte Xul Solar viele Studienjahre in Europa. Von 1912-1924 hielt er sich in London, Paris, Mailand und München auf. Abgesehen vom Studium der Kunstgeschichte und dem Kontakt zur europäischen Avantgarde begann Xul, sich mit dem Werk Rudolf Steiners und des englischen Esoterikers Aleister Crowley zu beschäftigen. So galt sein Interesse schon früh nicht allein der Kunst, sondern den Religionen, der Metaphysik, der Mythologie und der Astrologie. Xul schuf fast ausschließlich Aquarelle, aber seine Arbeiten waren weit über die rein künstlerische Betätigung hinaus immer Ausdruck seiner Suche nach einer allumfassenden Wahrheit, seines Drangs, Verbindungen und Netzwerke herzustellen zwischen Sprachen, Völkern, Religionen und Anschauungen. Der Künstler, der acht Sprachen beherrschte, beschäftigte sich auch Zeit seines Lebens damit, neue linguistische Systeme zu entwickeln. Für sein „neocriollo”, das das Spanische, Portugiesische und Elemente der Indianersprache Guaraní verbindet, schuf er sogar eine Grammatik; für seine „panlengua”, die eine universelle Weltsprache werden sollte, fehlte ihm die Zeit. Xul war zudem Erfinder, er entwickelte Spiele und schuf Musikinstrumente und Marionetten.

Im Werk von Xul Solar wird das Gefängnis von Palermo zu einem Symbol neben vielen anderen – seinen Fahnen, Schlangen, Buchstaben oder Bändern – und verwandelt sich in Berge, die Bienenstöcken gleichen, vergitterte Fenster oder Türme. Seine Visionen von einer neuen, modernen Stadt drückt er in Bildern von der Großstadt Buenos Aires aus, die immer erkennbar ist – am ehesten in den letzten, farbenfrohen, optimistischen Aquarellen seines Lieblingsorts – des Tigre-Deltas, wo er bis zum letzten Atemzug in seiner Werkstatt seiner künstlerischen Arbeit und metaphysischen Suche nachging.

Antonio Seguí – exzellenter Porträtist der Stadt

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Großstadtdschungel: “Paisaje urbano” (1998) von Antonio Seguí.

Jeder Künstler ist ein Sonderfall, aber Antonio Seguí, 1934 in Córdoba, Argentiniens zweitgrößter Stadt geboren und seit über 40 Jahren Bürger von Paris, ist ein Sonderfall der Sonderfälle. Wie gelingt es einem Künstler aus dem Landesinneren, wie kein zweiter das Großstadtleben der Hauptstadt zu porträtieren, wie kann ein so lange schon “im Exil” lebender Argentinier den argentinischen Großstadtmenschen auf so satirisch-liebevolle Weise darstellen, wie nur er es vermag? Man kann spekulieren, dass vielleicht gerade ein mit Seguís Sensibilität ausgestatteter “Außenstehender” dazu in der Lage ist, aber man muss auch der Tatsache Rechnung tragen, dass Seguís Kunst eine universelle ist – es ist “die Großstadt” an sich, die er malt, nicht unbedingt nur Buenos Aires (das Paris ohnehin sehr ähnelt), und “der Mensch” an sich, nicht unbedingt nur der “porteño” (Bewohner der Stadt Buenos Aires). Dennoch erkennt man in Seguís humorvoll-bösen, an Comics angelehnten Grafiken und Gemälden den aberwitzigen, hektischen Rhythmus der Stadt am Río de la Plata sofort, und die leicht verstaubte Ehrenhaftigkeit und Eitelkeit der “porteños”, deren fragile Identität Seguí als mit einem umso größeren Ego zugedeckt entlarvt.

Hassliebe und Ruhm

Antonio.jpgNur in der Großstadt Buenos Aires pulsiert das Leben des gigantischen Landes Argentinien, und dieses Leben ist ein gnadenloser, unerbittlicher Konkurrenzkampf. Antonio Seguí hat ihn am eigenen Leib erlebt, als er als junger Künstler, aus Córdoba kommend, in Buenos Aires sein Glück versuchte – wie so viele. Seitdem verbindet ihn eine Hassliebe mit dieser Stadt (die er im übrigen mit so manchem ihrer Bewohner teilt). Heute ist Antonio Seguí einer der erfolgreichsten argentinischen Künstler überhaupt. Im Mai 2005 hat ihm das renommierte “Centre Pompidou” in Paris eine umfassende Retrospektive gewidmet – die erste und bislang einzige, die einem Argentinier zuteil geworden ist. Seiner Heimat Argentinien zeigte er seine Verbundenheit, als er dem Museum für Moderne Kunst (MAMBA) von Buenos Aires im Jahr 2001 eine Sammlung von 300 Grafiken als Schenkung überreichte.

Florencio Molina Campos – Chronist der Pampa

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In vollem Galopp: Ein Werk von Florencio Molina Campos.

Der Künstler Florencio Molina Campos (1891-1959) hat mit seinen entzückenden, in den Bereich der Karikatur reichenden Darstellungen voller Liebe zum Detail und lichtdurchfluteter Energie wie kein zweiter das Leben auf dem Lande porträtiert, vor allem aber die Welt der Gauchos: ihre Reiterkunststücke, die Messerkämpfe oder das Truco-Spiel in der “Pulpería”, einem Treffpunkt, der Kneipe und Einkaufsladen zugleich war. Molina Campos’ Bilder schmückten seit 1931 über 15 Jahre lang die Kalender der Alpargatas-Schuhfabrik, mit denen er eine unvergleichliche Popularität erlangte – es waren 18 Millionen Exemplare von dieser “Pinakothek der Armen” im Umlauf, eine für die Epoche fast unvorstellbar hohe Zahl. Wenn man Glück hat, kann man auf dem berühmten Antik-Markt von San Telmo heute noch alte Alpargatas-Kalenderblätter mit den Abbildungen von Molina Campos erstehen. 1942 reiste Florencio Molina Campos in die USA, um mit Walt Disney einen auf seinen Zeichnungen basierenden Film zu produzieren. Im Museum Molina Campos kann man Fotos von Walt Disney und seinen Zeichnern in Argentinien bewundern, wohin sie extra reisten, um Florencio Molina Campos die Einladung zu überbringen.

Detailgetreuer Beobachter

molina2.jpgFlorencio Molina Campos verbrachte seine Kindheit zwischen Buenos Aires und den Ländereien seiner Eltern in der Provinz Buenos Aires und der Provinz Entre Ríos. In seinen Werken wird deutlich, welch unglaublich scharfer Beobachter er gewesen sein muss, denn jedes Detail in seinen Bildern ist bis ins letzte ausgearbeitet – die Kleidung der Gauchos, ihre Stiefel, ihre Waffen, das Zaumzeug der Pferde, Sättel, Steigbügel, usw. Das führt so weit, dass Molina Campos’ Werke bereits als historische Dokumente herangezogen werden. Das hervorstechendste Merkmal seiner Gemälde ist der tiefliegende Horizont, der nur etwa das untere Sechstel des Bildes ausmacht. Damit hat Molina Campos die unendlichen Himmel und die fast grenzenlos scheinende Weite der Pampa meisterhaft festgehalten. Dazu kommt seine Fähigkeit, Stimmungen zu schaffen – es ist vor allem die lebendige Dynamik seiner Werke, die diese so unverwechselbar macht.

Florencio Molina Campos malte ununterbrochen, weil er Spaß am Malen hatte, und wenn ihm das Material ausging, benutzte er sogar Ravioli-Kartons. Seine Bilder verkaufte er zu moderaten Preisen, es ging ihm nie darum, mit seiner Kunst reich zu werden. Zeit seines Lebens musste sich der Künstler den Vorwurf gefallen lassen, dass er Pferde im Galopp mit allen vier Hufen auf einmal in der Luft malte. Das sei unmöglich, wurde ihm gesagt. Er hielt dagegen, er male, was er sehe. Erst als die Technik etwas weiter vorangeschritten war, bekam Molina Campos recht: In der Zeitlupe im Film ist zu erkennen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt im Galopp das Pferd den Boden mit keinem seiner Hufe berührt.

Dieser Artikel erschien im März 2006 in einer Tourismus-Sonderausgabe des “Argentinischen Tageblatts” für die ITB Berlin.

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