Neurosen und Sehnsüchte

| Off Topic | 13/8/06 | 0 comentarios

Argentinische Regisseure inszenieren Texte deutschsprachiger Dramatiker

Von Julia Roth

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Der gebürtige Berner Autor Reto Finger kommt nach Buenos Aires.

„Für ein menschliches Wesen ist wie ein Hund zu schwimmen nicht die sicherste, effektivste oder ästhetischste Art“, erklärt die Regisseurin Andrea Garrote den Titel des von ihr gewählten Textes, „Nadar perrito“ („Schwimmen wie Hunde“). „Man tut es, wenn man entweder keinen anderen Stil gelernt hat oder einfach nicht mehr kann.“ Der Protagonist, der Mittdreißiger Robert, kommt nicht damit klar, dass seine Ex-Freundin Charlotte ihm den Laufpass gegeben hat. Er nistet sich in ihrem Keller ein. Der gebürtige Berner Autor Reto Finger (1972) schrieb „Schwimmen wie Hunde“ (Fischer Verlag) für den Wettbewerb “Dramenprozessor” 2003/04.

Andrea Garrote bearbeitet Reto Fingers Stück im Rahmen des “Ciclo de Nueva Dramaturgia” (Zyklus Neuer Dramaturgie), den das Goethe-Institut Buenos Aires in Zusammenarbeit mit der österreichischen und der Schweizer Botschaft und mit Unterstützung von Pro Helvetia organisiert. Der Zyklus ist als Fortsetzung der Reihe szenischer Lesungen “4 x 4” gedacht, die in den vergangenen Jahren auf große Resonanz stieß. In Form szenischer Lesungen bearbeiten fünf junge argentinische Regisseure jeweils einen Text eines zeitgenössischen Dramatikers in deutscher Sprache. Dabei steht weniger im Mittelpunkt, eine perfekt ausgearbeitete Inszenierung zu präsentieren, sondern ebenso geht es um die individuelle Entdeckung und Interpretation der Texte durch die argentinischen Regisseure.

Luciano Cáceres zum Beispiel wagt sich an die schwierige Aufgabe einer freien Adaption von René Polleschs Stück „SEX“ (Rowohlt) heran. „René Pollesch zufolge ist SEX kein Theaterstück. Es ist ein Text, der als Instrument benutzt werden muss“, betont der junge argentinische Regisseur. Pollesch (1962) gilt als einer der innovativsten zeitgenössischen deutschsprachigen Theaterregisseure. Er gestaltet das Programm des Praters der Volksbühne am Rosa-Luxemburgplatz in Berlin. 2001 und 2006 wurde er mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet.

Mariana Chaud hat sich entschieden, „Tiempo para amar tiempo para morir“ („zeit zu lieben zeit zu sterben“) von Armin Petras (alias Fritz Kater) zu inszenieren. „Ich denke, der Text beruht auf einer sehr persönlichen Dramaturgie, die gleichzeitig traurig und witzig ist. Die Begegnung mit dem Stück ruft bei mir Verwirrung und Vergnügen zugleich hervor“, gesteht sie angesichts dieser grotesken und dialektischen Geschichte, die auf ein Thema zurückzuführen ist, das bei Autor Petras (1964) stets eine Rolle spielt: die deutsche Teilung. „zeit zu lieben zeit zu sterben“ erzählt vom Erwachsenwerden in der DDR, von einer Generation zwischen Stillstand und Aufbruch, von Umbrüchen, Sehnsüchten und einer Liebe. Armin Petras studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und siedelte 1988 nach Westberlin über. 2003 wurde er für „zeit zu lieben zeit zu sterben“ (Henschel Theater Verlag) mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet.

„’Die sexuellen Neurosen unserer Eltern’ entfaltet ausgehend von einer tragischen Situation eine Kette von Missbrauch und Gewohnheiten, die allen Bereichen von Beziehungen und Verwandtschaft innewohnen“, beschreibt Fernando Rubio den Text, den er inszenieren wird. Das Stück des Schweizer Autors Lukas Bärfuss handelt von den – insbesondere sexuellen – Erfahrungen des Mädchens Dora, das jahrelang von seinen Eltern durch Psychopharmaka ruhiggestellt worden war. Lukas Bärfuss (1971) wurde 2001 mit „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ (Wallstein Verlag) zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.

„Die Klarheit und Einfachheit der Erzählung steht in Franzobels Stück neben der grotesken und barocken Sprache der Dialoge. Es war diese Kombination, die mich am meisten interessiert hat, als ich das Stück ausgewählt habe“, begründet Matías Feldman seine Wahl des im Passagen-Verlag erschienenen Stücks „Queremos al mesías ya, o la familia acelerada“ („Wir wollen den Messias jetzt oder die beschleunigte Familie“) des österreichischen Autors Franzobel. In „Wir wollen den Messias jetzt“ findet sich ein moderner Jesus im heutigen Wien wieder. Dort ist er mit einer Gesellschaft konfrontiert, die sich nach metaphysischer Erlösung sehnt. Franzobel (1967) wurde u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis, dem Wiener-Werkstatt-Preis (1995), dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (1998), der Brecht-Medaille (2000) und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (2005) ausgezeichnet und 2002 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. „Am Anfang schien uns der ‚Messias’ für die großen europäischen Theater mit enormen Etats gemacht zu sein“, erzählt Matías Feldman. „Aber im Laufe der Proben entdecken wir nach und nach die Möglichkeiten des Stücks. Wir haben uns entschieden, die Einfachheit der Erzählung herauszuarbeiten: frontal, lesbar, aber gleichzeitig düster und brutal.“

Die szenischen Lesungen im Rahmen des “Ciclo de Nueva Dramaturgia” sind vom 28. August bis 3. Oktober jeweils montags und dienstags um 20 Uhr im Goethe-Institut, Av. Corrientes 319, zu sehen. Der Eintritt ist frei. Bis zu zwei Karten pro Person können bis eine Stunde vor Vorstellungsbeginn abgeholt werden.

Am 28. und 29. August wird Reto Finger der Inszenierung seines Stückes „Nadar perrito“ („Schwimmen wie Hunde“) beiwohnen und mit dem Publikum diskutieren.

Programm:

  • „Nadar perrito“ („Schwimmen wie Hunde“) von Reto Finger, Inszenierung: Andrea Garrote. Montag, 28. und Dienstag, 29. August.
  • „SEX“ von René Pollesch, Inszenierung: Luciano Cáceres. Montag, 4. und Dienstag, 5. September.
  • „Tiempo para amar. Tiempo para morir“ (“zeit zu lieben zeit zu sterben”) von Fritz Kater, Inszenierung: Mariana Chaud. Montag, 18. und Dienstag, 19. September.
  • „Queremos al mesías ya, o la familia acelerada“ („Wir wollen den Messias jetzt oder die beschleunigte Familie“) von Franzobel, Inszenierung: Matías Feldman. Montag, 25. und Dienstag, 26. September.
  • „Las neurosis sexuales de nuestros padres“ („Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“) von Lukas Bärfuss, Regie: Fernando Rubio. Montag, 2. und Dienstag, 3. Oktober.

Dieser Artikel erschien am 12.08.06 im “Argentinischen Tageblatt”.

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