Überschäumende Kreativität (1999)
Jorge Meijide stellt bei Atica aus
Von Susanne Franz
Der Name der Ausstellung „Son todos boletos” („Das sind alles Fahrscheine”) hat im Slang der argentinischen Hauptstadt die Bedeutung „Das sind alles Lügen”. Dementsprechend ist man auf eine Art Sozialkritik gefasst und erlebt eine Überraschung, wenn man die Exposition besucht: Es sind nämlich tatsächlich alles Fahrscheine. Hunderte der kleinen Zugfahrkarten aus Pappe (die es heute nicht mehr gibt) hat Jorge Meijide bemalt, mit Bleistift, Buntstiften, Kohle, mit allem scheinbar, was er gerade zur Hand hatte.
Die Werke, die hier an den Wänden der Galerie hängen, können aus einem einzelnen bemalten Fahrschein bestehen oder eine Collage aus vielen verschiedenen sein, die beliebig angeordnet sind (eines der Markenzeichen Meijides). In diesen Collagen ist meistens ein Platz mit einem Original-Fahrschein belegt. Das Loch, das beim Entwerten der Fahrkarte entstanden ist, wird mit einbezogen: als Auge bevorzugt, aber auch in allerlei erotischen Varianten. Landschaften, Porträts, Akte und Strichmännchen wirbeln da durcheinander; Sketche, Entwürfe, Comics und kleine Meisterwerke wechseln sich ab.
Jeder dieser Fahrscheine hat seine eigene Geschichte, wurde von einem Reisenden gekauft, der ihn im Zug auf dem Weg zu irgendeinem Ziel sorgfältig aufbewahrte und ihn dann, wertlos geworden, wegwarf. Für den Zeitraum der Zugfahrt hatte das Kärtchen Bedeutung. Eine gewisse Magie bleibt an dem Objekt haften, der Zauber des Unterwegs-Seins, vielleicht der des Sich-anders-entscheiden-Könnens.
Indem Jorge Meijide die Fahrscheine durch seine Zeichnungen zu Kunstwerken macht, verstärkt er den ihnen innewohnenden Reiz. Es sind eben nicht nur Fahrscheine – die überschäumende Kreativität des Künstlers lässt aus ihrer Vielfalt ein Kaleidoskop des Lebens erstehen.
Dieser Artikel erschien am 20.11.1999 im “Argentinischen Tageblatt”.