Wechselvolle Geschichte

Das Argentinische Tageblatt

Von Stefan Kuhn

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So manch einer ist überrascht, wenn ihm an argentinischen Zeitungskiosken ein in gotischen Lettern gedruckter deutscher Titel ins Auge springt. Neben der spanischsprachigen Presse und einer Tageszeitung in Englisch erscheint in Buenos Aires seit 117 Jahren das Argentinische Tageblatt. Der Name täuscht etwas, denn seit fast 25 Jahren informiert das “Tageblatt” nur noch wöchentlich in deutscher Sprache über Politik, Wirtschaft und Kultur.

Das Argentinische Tageblatt wurde 1889 von dem Schweizer Auswanderer Johann Allemann zusammen mit seinen Söhnen Theodor und Moritz gegründet. Der liberale Journalist Alemann (das zweite “l” ließ er aus Gründen der argentinischen Aussprache streichen) war Anfang der 70er-Jahre ins Land gekommen und gab schon seit 12 Jahren in Buenos Aires eine erfolgreiche Wochenzeitung heraus.

Das Tageblatt war damals neben englischen, französischen, italienischen und anderen deutschen Blättern eine von vielen fremdspachigen Einwandererzeitungen. Heute ist es neben dem Buenos Aires Herald das letzte Relikt dieser Epoche der argentinischen Geschichte.

Internationale Beachtung fand das Argentinische Tageblatt in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als der damalige Herausgeber Ernesto Alemann, ein Enkel des Gründers, es zu einem Sprachrohr des Exils und einer Waffe gegen den Nationalsozialismus machte.

Alemann hatte während der Kaiserzeit in Deutschland studiert und in München sein journalistisches Handwerk erlernt. Er gewann namhafte Autoren für die Zeitung, aus Berlin schrieb der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, aus München Hans Christian Bry, ein Literat, der frühzeitig die Gefahr des Nationalsozialismus erkannte. Alemann selbst arbeitete nach seiner Rückkehr als Argentinienkorrespondent für das renommierte Berliner Tagblatt.

Schon zu Zeiten der Weimarer Republik vertrat das Argentinische Tageblatt eine bedingungslos demokratisch-liberale Position und handelte sich damit Ärger mit großen Teilen der deutschen Gemeinschaft in Argentinien ein. Diese vorwiegend deutschnationalen Kreise sahen sich mehr vom Konkurrenzblatt, der Deutschen La Plata Zeitung, vertreten. Nach der “Machtergreifung” der Nationalsozialisten und der “Gleichschaltung” vieler deutscher Organisationen und Institutionen in Argentinien führte Alemann mit allen publizistischen Mitteln einen Kampf gegen das Hitler-Regime. Die Gegenreaktionen der “völkischen” deutschen Kreise in Argentinien ließen nicht auf sich warten. Von der deutschen Botschaft angestrengte Prozesse oder Anzeigen-Boykotte von deutschen Unternehmen hielten Alemann nicht von seinem Kurs ab. Die Aktionen der Gegenseite hatten mitunter auch handfesten Charakter. Tageblatt-Redakteure wurden überfallen und verprügelt, es gab einen Brandanschlag gegen die Zeitung.

In Deutschland wurde das Tageblatt schon im April 1933 verboten und Redakteure ausgebürgert. Ernesto Alemann versuchte man zu schmähen, indem man ihm seinen in Heidelberg erworbenen Doktortitel aberkannte. Alemann nahm das publizistisch humorvoll und der Zeitung schadete es wenig. Politische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, zehntausende deutschsprachige Juden fanden im Tageblatt nicht nur unzensierte Lektüre in ihrer Muttersprache, sondern viele auch einen Arbeitsplatz.

Während in Deutschland Kultur und freie Meinungsäußerung ihren Niedergang fanden, konnte man im Argentinischen Tageblatt Artikel der Creme der Weimarer Literaten und Journalisten lesen. Artikel von Lion Feuchtwanger, den Gebrüdern Mann, Alfred Kerr und Manfred George wurden veröffentlicht. Stefan Zweig und Albert Einstein gratulierten dem Tageblatt im April 1939 zum 50. Geburtstag.

Nach dem 2. Weltkrieg geriet die Zeitung in Konflikt mit der peronistischen Regierung. Das Perón-Regime mit seiner Anlehnung an faschistische Traditionen war dem linksliberal eingestellten Alemann ein Gräuel. Die Peronisten reagierten hart. Anfang der 50er-Jahre wurde das Tageblatt zwei Monate lang verboten.

Die Zeitung überstand dennoch alle Schikanen und Anfeindungen. Selbst das 1946 entstandene deutschnationale Konkurrenzblatt, die Freie Presse, musste nach gut dreißig Jahren die Segel streichen, obwohl es von der deutschen Nachkriegsauswanderung mehr als das Tageblatt profitiert hatte.

1981, ein Jahr vor dem Tod Ernesto Alemanns, wurde das Argentinische Tageblatt in eine Wochenzeitung umgewandelt. Das zurückgehende Anzeigenaufkommen und die stagnierende Einwanderung ließen der Verlagsleitung keine andere Wahl. Seither erscheint die Zeitung jeden Samstag. 1993 verkaufte der Verlag seine antiquierte Druckerei und den Verlagssitz und beschränkte sich ausschließlich auf die Herausgabe des Argentinischen Tageblatts. Seit dem 1. Januar 2000 erscheint die Zeitung im handlichen Kleinformat und mit Farbseiten. Der Verlag kam damit einem in einer Umfrage ausgesprochenen Wunsch der Leser nach.

Heute wird das Argentinische Tageblatt von Roberto T. und Juan E. Alemann, den Urenkeln des Gründers, herausgegeben. Die Herausgeber sind renommierte Wirtschaftsexperten, Roberto Alemann war in zwei Regierungen Wirtschaftsminister, Juan Alemann Staatssekretär für Finanzen. Sie stehen für die Qualität des Wirtschaftsteils der Zeitung. Seit sieben Jahren ist das Tageblatt auch im Internet präsent. Unter www.tageblatt.com.ar gibt es jeden Dienstag im pdf-Format die neuesten Nachrichten aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Sport in Argentinien.

Die Redaktion besteht heute aus in Deutschland ausgebildeten Journalistinnen und Journalisten. Sie und Praktikanten aus deutschsprachigen Ländern sorgen dafür, dass das Argentinische Tageblatt auch nach 117 Jahren eine anspruchsvolle Mischung aus aktuellen Nachrichten, Hintergrundberichten, Kulturinformationen, Veranstaltungshinweisen, Unterhaltung und Berichten aus dem deutschen Vereinsleben in Argentinien enthält.

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