Vom lesenden Kind zum Bestsellerautor

| Off Topic | 6/5/07 | 0 comentarios

Der deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann über die spanische Ausgabe seines Werkes “Die Vermessung der Welt”

Von Christina Liebl

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Der Autor Daniel Kehlmann bei einem Gespräch über sein Buch “Die Vermessung der Welt”, südamerikanische Literatur und seine neue Berühmtheit.

Eine Million verkaufter Exemplare und Übersetzungen in 35 Sprachen: Das ist die Erfolgsgeschichte von “Die Vermessung der Welt” des 32-jährigen Schriftstellers Daniel Kehlmann. Auf der 33. Buchmesse von Buenos Aires präsentierte der Autor die ins Spanische übertragene Ausgabe “La medición del mundo”. In einem Interview mit dem Argentinischen Tageblatt sprach er über sein Buch, seine Arbeit als Schriftsteller und deutschen Humor.

Wodurch kam Ihnen die Idee zu “Die Vermessung der Welt?”

Hauptsächlich, als ich vor ein paar Jahren in Mexiko war, über das Land gelesen habe und überrascht war, wie komisch Humboldt als Figur sein kann – auf eine sehr deutsche Art komisch. Gauß hatte mich immer schon fasziniert. Schließlich habe ich herausgefunden, dass Gauß 1828 Hausgast bei Humboldt war während des zweiten Deutschen Naturforscher-Kongresses. Da habe ich die Struktur des Romans vor mir gesehen.

Wenn Sie sagen, dass die Figuren auf “deutsche” Art komisch sind, glauben Sie, dass jemand aus einem anderen Kulturkreis das ebenso verstehen kann und es genauso komisch findet?

Das ist sehr interessant für mich. Ich kann es nur hoffen. Ich bemerke sehr unterschiedliche Reaktionen in verschiedenen Ländern. Das Buch kommt in England sehr gut an, was sicher damit zu tun hat, dass mein Humor dem englischen verwandt ist, und dass die Engländer diese Tradition von spleenigen Forschern selbst haben. Was Südamerika angeht, war ich ein wenig unsicher, ob das Buch hier funktionieren könnte. Aber die ersten Reaktionen, die ich bekommen habe, sind sehr gut. Ich spiele mit Elementen des südamerikanischen Erzählens und ich habe das Gefühl, dass in Südamerika gewisse Kleinigkeiten oder Anspielungen naturgemäß viel besser erkannt werden als anderswo. In Argentinien ist das Buch ja gerade erst erschienen und ich bin sehr neugierig, wie die Reaktionen sein werden.

Wie haben Sie für das Buch recherchiert?

Ich habe nicht Humboldts Reisen nachgemacht. Erstens hätte mich das fünf Jahre gekostet und zweitens geht das nicht, weil die Welt sich seither verändert hat, nicht nur politisch und architektonisch in den Städten, sondern sogar geologisch. Humboldts Andenreise ist heute so nicht mehr nachvollziehbar, weil sich durch Hangrutsche die Oberfläche gewisser Strecken zu stark verändert hat. Ich hatte mich von Anfang an entschieden, auf Lokalkolorit zu verzichten. Das ist ein spielerisches Buch, ein komödiantisches und keines, das von Lokalschilderungen lebt. Die Hauptrecherche war sehr viel lesen. Das geht nur in einem Gebiet, das mich interessiert. Ich könnte mich nicht über ein Jahr lang in ein Thema hineinversenken, das mich selbst überhaupt nicht betrifft.

Wo haben Sie selbst die Grenze zwischen Realität und Fiktion gezogen? Zum Beispiel, wenn Sie einen Dialog schreiben und den Personen Dinge in den Mund legen?

Deswegen habe ich bei den Dialogen die Technik gewählt, fast alle in indirekter Rede wiederzugeben. Dadurch entsteht etwas Pseudodistanziertes: Das ist inhaltlich so gesagt worden, aber wörtlich natürlich nicht. So würde es ein Historiker machen. Grundsätzlich habe ich viel erfunden. Das Buch ist ein Roman, und immer da, wo Roman draufsteht, muss man sogar erfinden. Ich habe aber versucht, meinem Bild, das ich mir von diesen Menschen gemacht habe, treu zu bleiben.

Greifen Sie bei den Charakterzeichnungen auch auf schriftliche Quellen zurück?

Das ist unterschiedlich. Im Fall von Gauß hat man sehr viele Briefe, bei deren Lektüre ein nachvollziehbares menschliches Bild entsteht. Man hat das Gefühl, da steht ein Mensch vor einem. Man versteht, was seelisch in ihm vorgegangen ist. Bei Humboldt ist das anders. Humboldt hat ungeheuer viel geschrieben, aber er ist immer distanziert. Meine Erfahrung beim Recherchieren über Humboldt habe ich dann dem Wahrsager in den Mund gelegt, der ihm aus der Hand liest am Orinoko und sagt, er sehe niemanden. Humboldt hat etwas Roboterhaftes an sich.

Halten Sie das Älterwerden für etwas Positives, gerade dieses Schrullige, wie Sie es im Buch beschreiben?

Ich glaube nicht, dass das positiv ist. Es ist die größte Tragik des Lebens, verstärkt im Fall von Leuten, die etwas Bedeutendes leisten und danach nicht sofort sterben. Es gibt diesen Effekt, dass jemand etwas Großes geleistet hat, noch da ist, aber nicht mehr in der Lage ist, diese großen Dinge zu wiederholen. Man lebt als sein eigenes Relikt, als sein eigenes Monument. Das hat mich immer fasziniert. Im letzten Drittel des Buches habe ich versucht, das darzustellen: Einerseits die Tragik der nachlassenden Kräfte des Alters, andererseits das Seltsame, dass erst, als die Kräfte nachlassen, der Ruhm mit voller Kraft einsetzt.

Erfahren Sie in ähnlicher Weise, dass man mit zunehmender Bekanntheit nicht mehr dieselben Freiheiten hat?

Ja, das habe ich versucht, darzustellen und zuzuspitzen. Das beginnt bei Humboldt, sobald die ersten Journalisten auftauchen, in Mexiko ist er schon so umgeben von Menschen, dass seine Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt ist, in Sibirien kann er überhaupt nichts mehr machen. Grundsätzlich ist jede Art der Bekanntheit eine Einschränkung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit, an die man sich erst gewöhnen muss. Aber die Bekanntheit, die man als Schriftsteller erreichen kann, ist gering. Selbst an einem mittelmäßigen Schauspieler gemessen ist der berühmteste Schriftsteller vollkommen unbekannt. Auch wenn man als Schriftsteller auf der Straße erkannt wird, schränkt es das normale Leben nicht ein.

Wollten Sie mit dem Buch eine bestimmte Botschaft vermitteln?

Nein. Ich wollte einen Roman über zwei Menschen schreiben, auf der Suche nach Wissen, was ihnen das bringt und was sie das kostet. Ich wollte keine Botschaft vermitteln, und ich wollte niemandem etwas beibringen. Ich halte es für möglich, dass viele Leute das Buch kaufen, um etwas zu lernen, über diese Zeit der Wissenschaft und der Entdeckungen, über Gauß, über Humboldt. Ich kann nur sagen, man sollte keinen Roman lesen, um etwas zu lernen, sicherlich nicht meinen. Man sollte keinen Informationen vertrauen, die darin stehen.

Das Buch verführt natürlich dazu.

Natürlich, es spielt auch damit. Es hat den Ton einer ernsthaften Monographie. Das ist es aber nicht. Ich finde, der einzige Zweck eines Romans sollte ästhetischer Natur sein: eine Geschichte zu erzählen auf eine formal interessante, überraschende Art. Ich denke, ich werde nie bei einem Roman etwas anderes wollen, als ein gutes Buch zu schreiben.

Sie sagen, ein Roman soll etwas Ästhetisches sein. Denken Sie viel über Ihren eigenen Stil nach?

Ja, extrem. Man kann ohne das nicht schreiben. Stil ist letztlich alles, was man hat. Ein Buch besteht aus Worten, auch die Figuren, auch die Geschichten setzt man aus Sätzen zusammen. Gerade bei “Die Vermessung der Welt” musste ich sehr lange darüber nachdenken, bevor ich auf diesen Stil gekommen bin, diesen pseudo-sachlichen, distanzierten Stil mit der indirekten Rede. Ohne den hätte ich es nicht schreiben können. Die meisten Pointen und komischen Stellen leben vom Zusammentreffen dieses distanzierten Stils mit Episoden, die man eigentlich nicht in einem solchen Stil erzählen würde, also von diesem Kontrast von Form und Inhalt. Ich war am Anfang unsicher, ob das funktionieren würde, ob mit so viel indirekter Rede überhaupt ein lesbarer Text entsteht. Das findet man dann durch Probieren über lange Zeit heraus, durch Versuch und Irrtum.

Würden Sie das Schreiben dann eher als Handwerk oder als Eingebung bezeichnen?

Handwerk klingt so technisch. Wenn man Tischlermeister ist, kann man ziemlich sicher sein, dass man keinen schlechten Tisch mehr herstellt. Er wird vielleicht nicht der beste sein, den man gemacht hat, aber man wird sich damit nicht furchtbar blamieren. Als Schriftsteller hat man diese Sicherheit nicht, man kann nach mehreren wirklich gelungenen Büchern plötzlich eines schreiben, das furchtbar schlecht ist und es selbst offenbar nicht merken. Es gibt genug Beispiele dafür. Schreiben ist viel mehr Arbeit als Inspiration. Inspiration muss durch viel Arbeit geformt und genutzt werden. Aber im Unterschied zum Handwerk gibt es nie den Punkt, an dem man sich auf seine technischen Fähigkeiten verlassen kann.

Spielt Ihr Studium der Literaturwissenschaft eine Rolle für Sie, wenn Sie schreiben?

Nein, soll es auch nicht. Es ist nicht die Aufgabe eines Literaturstudiums, einem richtig schreiben beizubringen. Aber ich habe im Hauptfach Philosophie studiert, das hat mich viel stärker geprägt: Die Ideen, Leute, die von und mit Ideen leben, was letztlich für die beiden Wissenschaftler hier auch gilt. Auch stilistisch kann man von den großen Philosophen viel lernen. Es gibt kaum jemanden, der deutsche Prosa so schön und perfekt schreibt wie Arthur Schopenhauer.

Wie wichtig ist Ihnen die Übertragung Ihres Buches in eine andere Sprache, besonders in das Spanische?

Das ist ganz wichtig: Erst mal ist es die größte Ehre, die einem Autor passieren kann, dass sein Buch übersetzt wird, dass man sich die Zeit nimmt, sich damit auseinandersetzt. Und, das Buch heißt ja schon “Die Vermessung der Welt”: Irgendwie ist es in der Konstellation des Romans schon angelegt, dass es ein Buch ist, das man gerne in die Welt hinausschicken würde. Es ist sehr interessant, die Reaktionen in unterschiedlichen Ländern zu sehen: Man lernt selbst etwas darüber, wie andere Gesellschaften und Länder funktionieren. Alleine die verschiedenen Cover bringen einem so viel darüber bei, wie die Welt in anderen Ländern ist, oder was Kritiker dort für wichtig halten. Es ist ja ein und dasselbe Buch.

Glauben Sie, dass das Buch in Lateinamerika eine besondere Rolle spielen wird, gerade weil es thematisch durch Humboldt so eng mit dem Kontinent verknüpft ist?

Das zu glauben, wäre vermessen. Es würde mich sehr freuen, eben weil es meine eigene Auseinandersetzung mit dem Kontinent und der lateinamerikanischen Literatur ist. Aber es ist die Auseinandersetzung eines deutschen Autors. Somit ist bestimmt mehr Deutsches darin als Südamerikanisches, nur gefiltert durch das Südamerikanische. Deswegen bin ich auch hier. Das Buch erscheint jetzt in sehr vielen Übersetzungen. Vielen Ländern musste ich sagen: Ich schaffe das nicht, ich kann da nicht auch noch hinfliegen. Aber mir ist das Schicksal von “Die Vermessung der Welt” in Südamerika besonders wichtig.

Was genau interessiert Sie so an der südamerikanischen Literatur?

Schwer, so allgemein zu sagen. Es ist eine Literatur voll von Experimenten, die aber gleichzeitig immer auf eine kraftvolle Art narrativ ist. Sie ist nie abstrakt. Es werden immer mitreißende Geschichten von Menschen erzählt. Aber gleichzeitig wird das Experiment nicht geopfert. Um ein Beispiel zu nennen: Vargas Llosas Technik, Handlungsstränge, die nur thematisch verknüpft sind, aber nicht inhaltlich, so miteinander zu verbinden, dass er oft innerhalb eines Satzes zwischen ihnen herumspringt, zwischen unterschiedlichen Zeiten und Handlungen. Das fasziniert mich unglaublich. Südamerikanische Literatur verlangt einem durchaus etwas ab, aber man wird immer belohnt für diese Mühe, weil es nie steril wird. Je mehr man sich hineinversenkt, desto lebendiger wird es.

Wieso haben Sie zu schreiben begonnen?

Dafür gibt es keinen Grund. Leute, die später Schriftsteller sind, waren Kinder, die gerne und viel lesen. Jemand, der als Kind nicht gelesen hat und später entschieden hätte, ich werde Schriftsteller, ich glaube, das gibt es gar nicht. Ich habe jedenfalls noch nicht davon gehört. Ich war eines von diesen lesenden Kindern und das Schreiben hat sich daraus entwickelt. Schreiben entwickelt sich daraus, dass einem Literatur wichtig ist und dass man Bücher liebt. Erstaunlich viele Leute, die gerne lesen, fangen auch irgendwann an, etwas zu schreiben und lassen es dann in den meisten Fällen liegen. Der Unterschied zu den späteren Schriftstellern ist, dass diese es fertigmachen und dann etwas Neues anfangen.

Als abschließende Frage: Was ist Ihr nächstes Projekt?

Das kann ich nicht verraten. Da bin ich abergläubisch. Nur so viel: Ich bin schon bei der Arbeit und es geht ganz gut voran.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 05.05.07.

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