Das Leben auf dem Präsentierteller

| Off Topic | 15/9/07 | 0 comentarios

Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil zeigte 8-Stunden-Ritual “Les Éphémères” auf dem VI. Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires

Von Susanne Franz

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Momente voller Glück: Nora und Aline.

1000 Jahre sind für Gott wie ein Tag, acht Stunden lässt die Theater-Göttin Ariane Mnouchkine vorbeigehen wie einen Augenblick. Mit ihrem seit 43 Jahren bestehenden Ensemble Théâtre du Soleil betrat die legendäre Französin erstmals südamerikanischen Boden und schrieb als Höhepunkt des VI. Internationalen Theaterfestivals auch in Argentinien Theatergeschichte.

Das Stück “Les Éphémères”, das die Franzosen mitgebracht haben, ist in zwei knapp dreieinhalb Stunden dauernde, mit einer Kurzpause unterbrochene Teile aufgeteilt. Zur Halbzeit gibt es eine Stunde Pause zum liebevoll von den Franzosen zubereiteten Essen, das man im speziell zu diesem Zweck eingerichteten Restaurant zu sich nimmt. Ebenfalls wichtiger Bestandteil des Stückes ist die Gelegenheit, noch vor Beginn des eigentlichen Bühnengeschehens die Akteure an ihren Schminktischen beobachten zu können.

Neugierde und Vorfreude werden geweckt, fürs leibliche Wohl ist gesorgt, es wird genau erklärt, wie die Organisation des Tages bzw. Abends vor sich geht, so dass keine Unsicherheit aufkommt – das Publikum wird umsorgt wie ein geliebtes Kind. Und hier ist man an einem zentralen Thema von “Les Éphémères”: der Kindheit, wie sie sein sollte, und den prägenden Erlebnissen, die sie zu zerbrechen drohen. Für eindrucksvoll direktes Theater sorgt in diesem Zusammenhang, dass sich unter den vielen Akteuren auch sechs Kinder befinden.

Fast sechshundert Zuschauer passen in die Ränge aus Holzbänken, die an den zwei Längsseiten einer rechteckigen Bühne aufragen. Man schaut etwas bang auf einen leeren Holzboden hinab. Zur Linken und Rechten befindet sich ein Vorhang, und von dort werden nach und nach viele verschiedene Bühnen hereingeschoben, auf denen sich die Geschichten von “Les Éphémères” abspielen: runde Dreh“teller“, die auf Räder montiert sind und von einem, zwei oder drei “Bühnen-Bewegern” vorwärts oder rückwärts geschoben und zugleich gedreht werden, so dass alle Zuschauer einen Einblick in die Szene erhalten. Neben diesem zweckdienlichen Effekt ist das Drehen und langsame Bewegen der vielen kleinen Welten auch metaphysisch als unerbittlicher Ablauf der Zeit zu verstehen.

“Les Éphémères” ist aus einer rund einjährigen Arbeit der Improvisation des Ensembles entstanden und zeigt von den Schauspielern erlebte oder erträumte Episoden um Tod, Krankheit, Wahnsinn, Gewalt und Einsamkeit, aber auch Glück, Hoffnung und Phantasie. Die nur scheinbar gewöhnlichen “Familienszenen”, jede mit allergrößter Liebe in Szene gesetzt, hinterlassen einen unvergesslichen Eindruck im Zuschauer – in dessen Innerem sich die eigene kleine Bühne dreht.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 15.09.07.

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