Schwerelos unter dem Lotushimmel

| Off Topic | 29/9/07 | 0 comentarios

Das Butoh-Tanzwerk “Kagemi” war eines der Höhepunkte des VI. Internationalen Theaterfestivals von Buenos Aires

Von Susanne Franz

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Tranceähnlicher Theatergenuss: „Kagemi“ aus Japan.

Es sind die Bilder, die sprechen: Große weiße Lotusblüten stehen auf der Bühne. Am Boden zur Linken ist ein Kreis aus schwarzem Sand, daneben befindet sich ein weißes Quadrat. Ein Tänzer – der Choreograph und Leiter der Butoh-Tanzgruppe Sankai Juku, Ushio Amagatsu – betritt den Kreis und beginnt, die an magische Rituale gemahnenden, langsamen Bewegungen des Butoh-Tanzes zu vollführen, die alle Muskeln des menschlichen Körpers in einem einzigen metaphysischen Fluss miteinander in Einklang zu bringen scheinen. Der Tänzer betritt das Quadrat und hinterlässt als Spur die schwarzen Abdrücke seiner Schritte. Die Lotusblüten schweben nach oben und bilden bis zum Schluss des in mehrere Bilder aufgeteilten Tanzstücks einen Himmel über der Bühne. Sechs weitere Tänzer treten auf und die sieben tanzen nun die unterschiedlichen Szenen alle gemeinsam, einzeln oder in kleineren Gruppen. Mit kahlrasiertem Kopf, weiß geschminkten Gesichtern und Armen und langen weißen Gewändern sind sie geschlechtslos, zeitlos – und schwerelos, obwohl sie mit keinerlei “Tricks” oder Illusionismus arbeiten. Ihre tänzerische Perfektion und die spirituelle Dichte ihrer Körper erwecken den Eindruck, als ob sie sich wie von einer Schnur gezogen fortbewegten oder sich von einem Ort der Bühne an den anderen zauberten. Sie erscheinen einmal zerbrechlich, dann wieder wie riesige muskelbepackte Monstren. Sie wirken klein – und plötzlich “wachsen” sie in die Höhe und scheinen über dem Boden zu schweben.

Abgesehen von den lautlosen, langsamen Bewegungen der Körper, die den Zuschauer in eine Art Trance versetzen, sind die Bewegungen der Arme und Hände von zentraler Bedeutung. “Die rechte Hand fragt, die linke antwortet”, schreibt Ushio Amagatsu im Programmheft. Der Körper kann mit einer Geste, der Bewegung der Muskeln, zugleich das kleinste und das größte Geheimnis des Universums ausdrücken. Bei aller Perfektion dieser außerordentlichen Butoh-Tanzgruppe bringt doch jeder einzelne Integrant seine Individualität und Authentizität zum Ausdruck: Jeder bewegt die Hände anders, hat andere Fragen, andere Antworten.

Die einzelnen Bilder des Tanzstücks “Kagemi” setzen sich mit universellen und konkreten Fragen des menschlichen Strebens nach der Einheit von Körper und Geist auseinander. Unterstützt von der hervorragenden Beleuchtung (Satoru Suzuki) und der das Stück perfekt unterstreichenden Originalmusik (Takashi Kako, Yoichiro Yoshikawa) schenkte die Tanzgruppe Sankai Juku unter ihrem Leiter Ushio Amagatsu, der zu den Pionieren der avantgardistischen japanischen Tanzform gehört, dem argentinischen Publikum den Genuss eines der ungewöhnlichsten und exzellentesten Theatererlebnisse der letzten Jahre.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 29.09.07.

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