Doppelter Verlust der Kindheit
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Der deutsche Videokünstler Bjørn Melhus besuchte Argentinien
Von Susanne Franz
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Bjørn Melhus, einer der interessantesten Videokünstler und Experimentalfilmer Deutschlands, war vergangene Woche im Rahmen des Euroamerikanischen Film-, Video- und Digitalkunstfestivals MEACVAD in Argentinien. Eingeladen worden war er vom Goethe-Institut Buenos Aires, das zusammen mit der Alianza Francesa und der Stiftung Telefónica Veranstalter des Festivals war, welches noch zwölf weitere bedeutende Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland in seinem hochkarätigen Programm vom 5. bis 9. November hatte, darunter den charismatischen Dokumentarfilmer und Kinotheoretiker Jean-Louis Comolli aus Frankreich, den brasilianischen Filmemacher, Drehbuchautor und Produzenten Cao Guimarães, den Künstler, Performer, „Networker“ und experimentellen Dichter Clemente Padín aus Uruguay oder die Künstlergruppe ArteProtéico aus Córdoba/Argentinien.
Geboren in Kirchheim/Teck (was man ihm nicht anhört), lebt und arbeitet Bjørn Melhus heute vor allem in Berlin. Sein Geburtsjahr 1966 ist von zentraler Bedeutung für seine künstlerische Arbeit, denn Melhus gehört der ersten Generation von deutschen Kindern an, die vom Fernsehen und vor allen den US-amerikanischen Serien geprägt wurde. “Seit ich denken kann, habe ich ferngesehen”, sagt Melhus, der den hopsenden Gang des Astronauten Neil Armstrong, des ersten Menschen auf dem Mond, als Kind endlos auf einer Matratze nachmachte und eine Baustelle in der Nähe der Hochhaussiedlung, in der er aufwuchs, zu seinem eigenen “Wilden Westen” erklärte, wo er sich in die Serien hineinträumte.
Die Identifikationsmuster, die das Fernsehen der Kindheit lieferten, mischten sich mit der Realität des eigenen Lebens und wurden nahtlos eingebaut, ohne dass es dem Kind bewusst geworden wäre, dass es sich bei den TV-Welten um fiktive Wirklichkeiten handelte und man von den wahren Umständen beispielsweise beim Urwalddoktor Daktari oder auf der Farm der Cartwrights in Bonanza keine Ahnung hatte.
Bjørn Melhus empfindet diese Indoktrination und Verzerrung der eigenen Wahrnehmung heute als Verlust (von Identität), und obwohl er in seinen Videoinstallationen und Filmen mit viel Humor arbeitet, ist doch auch immer Trauer mit im Spiel – Trauer über den Verlust der Kindheit im allgemeinen, und im besonderen einer Kindheit, die ungewollt fremdbestimmt war.
An zwei Abenden im Goethe-Institut Buenos Aires und bei zwei Veranstaltungen vor Filmstudenten an der Universität von San Miguel de Tucumán im Landesinneren bot sich letzte Woche die Gelegenheit, das nicht immer leicht zugängliche Werk Melhus’ näher kennenzulernen. Am Donnerstagabend zeigte der Künstler in Buenos Aires eine Auswahl seiner vielschichtigen Videoinstallationen, am Freitagabend zwei längere Filme. Im ersten, “Weit weit weg – Far far away” (1995, 39 Min.), verkörpert Melhus, der in seinen Installationen und Filmen immer alle Rollen selbst spielt, Dorothy aus dem “Zauberer von Oz”. “Dies ist ein autobiographischer Film, es geht um das persönliche Psychodrama vom Ende der Kindheit, vom Kinderzimmer, das zum Gefängnis wird”, erklärt Bjørn Melhus den in 12 Kapitel eingeteilten Film von Dorothy, die mit dem Plastikhund Toto, ihrem einzigen Freund, in Sasnak lebt. (Melhus: “Das ist Kansas von hinten gelesen, und es klingt so schön Deutsch.”) Mit Hilfe eines gelben Telefons versucht Dorothy, “weit weit weg” in die Welt des Fernsehens zu entfliehen, und es gelingt ihr, eine zeitgleiche andere Dorothy in Amerika zu erschaffen, ein Signal, mit dem sie “kommuniziert” (Melhus verwendet in seinen Filmen nie die eigene Stimme, sondern Synchronstimmen, in diesem Fall die Stimme der deutschen Synchronsprecherin von Judy Garland aus dem Film “Der Zauberer von Oz” und Judy Garlands Originalstimme). Das Signal vervielfältigt sich, es kommt zur Trennung, zur Transformation, einer erneuten Kontaktaufnahme und dann dem endgültigen Verlust dieses Teils der kleinen Dorothy, die einsamer und verzweifelter als zuvor in ihrem Kinderzimmer zurückbleibt.
Auch der zweite Film, den Melhus an diesem Abend zeigt, endet mit einem sehr einprägsamen Bild: In “Auto Center Drive” (2003), in dem unterschiedliche, von Melhus dargestellte „Science-Fiction“-Figuren mit den Stimmen von James Dean, Janis Joplin und Jim Morrison sprechen bzw. singen (“alles jung gestorbene Stars, und das ist wichtig!”, merkt der Künstler an), befindet sich der Protagonist “Jimmy” am Ende in einem Auto, das zunächst von einem Chauffeur gesteuert wird. Er beginnt, diesem etwas zu beichten, schaut zur Seite – und ist allein. Eine treffende Beschreibung des Lebens, in dem wir dahinrasen, ohne eine Ahnung zu haben, wer da eigentlich steuert.
MEACVAD-Buchveröffentlichungen
Im Rahmen des Euroamerikanischen Film-, Video- und Digitalkunstfestivals MEACVAD sind zwei Bücher erschienen: zum einen “Ver y Poder” von Jean-Louis Comolli, das von Aurelia Rivera und Nueva Librería mit der Unterstützung der Alianza Francesa und der Fundación Telefónica herausgegeben wurde. Der andere Band ist “Artes y Medios Audiovisuales, un estado de situación”, eine Zusammenstellung von Jorge La Ferla, die von der Alianza Francesa, der Fundación Telefónica und dem Goethe-Institut produziert wurde. Sie vereint Schriften über Dokumentarfilm, Kino, Fernsehen, Video, Telematik und neue Medien, die von den Forschern und Künstlern verfasst wurden, die am Festival teilgenommen haben.
Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 17.11.07.