Rodin in Buenos Aires

Mehr als nur die Ausstellung im Museo Nacional de Arte Decorativo

Von Katharina Guderian

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Rettungsbedürftiger ‚Denker’.
(Foto: Katharina Guderian)

Kaum jemand schenkt ihm Aufmerksamkeit. Er ist in einem erschreckenden Zustand. Mit Graffitis besprüht und Farbschmierereien übersäht muss ‚Der Denker’ des französischen Bildhauers François Auguste René Rodin auf der Plaza Lorea 200 Meter vor dem Kongress in Buenos Aires nicht nur seit 1907 der Witterung standhalten, sondern wurde zum Opfer von Aggression und Zerstörungswut. Einst ein Symbol für Verstand, Reflexion und Stärke, sitzt er jetzt auf seinem Sockel wie ein Häufchen Elend und scheint den Idealen den Rücken gekehrt zu haben. Resignation statt Inspiration. ‚Der Denker’ in Buenos Aires ist der einzige Bronzeguss dieses künstlerischen Meisterwerkes mit unschätzbarem historischem Wert in ganz Südamerika. Und doch gehen die Passanten an ihm vorbei, ohne ihren Blick zu heben. Zur Rodin-Ausstellung im Museo Nacional de Arte Decorativo an der Avenida del Libertador strömen die Besucher allerdings in Scharen.

Alleine am Eröffnungstag, dem 12. Juli, hatte die Ausstellung ‚La Era de Rodin’ mehr als 2100 Besucher. Im monumentalen Rahmen des historischen Bauwerkes werden noch bis zum 14. September dienstags bis sonntags von 14 bis 19 Uhr 46 Werke von Rodin gezeigt – darunter einige seiner berühmtesten wie ‚Der Denker’ (1880) und ‚Der Kuss’ (1886) – sowie weitere 30 Arbeiten seiner Zeitgenossen. Die gedrängte Masse der Kunstwerke ist überwältigend, ebenso wie der Andrang im Museum. Es bietet sich an, den Besuch der Ausstellung auf mehrere Tage aufzuteilen, um die Skulpturen mit genügend Ruhe genießen zu können, da der Eintritt nur zwei Pesos beträgt und dienstags kostenlos ist.

Auch wenn die Beleuchtung im Museum nicht ideal sein mag, so dass sich das für Rodin typische Wechselspiel zwischen Licht und Schatten auf den Skulpturen voll entfalten kann, der Besuch der Ausstellung lohnt sich. Mehr Rodin auf einem Fleck gibt es in Buenos Aires sonst nirgends.

Rodin gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Bildhauerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er wird als letzter großer klassischer Bildhauer, gleichzeitig aber auch als Wegbereiter der Moderne angesehen, der neue Maßstäbe vor allem auf dem Gebiet der Plastik und der Skulptur setzte. Er versuchte sich in neuen Darstellungsformen, ohne dabei jedoch die Tradition aus den Augen zu verlieren. Es ist schwierig, seinen Stil einzuordnen: symbolische Allegorien mit impressionistischem Realismus, expressionistischer Dynamik und einem Hauch von Romantik. Durch das Spiel des Lichtes haben die Figuren eine malerische Lebhaftigkeit. Rodin schaffte es, menschliches, seelisches Befinden aus dem Körper heraus in Stein oder Metall zu bannen. Nicht nur ganze Figuren und Gesichter leben, sondern selbst isolierte Körperteile wie Hände zeigen das Wesen eines gefühlten Momentes. Das non-finito ist dabei ein bedeutendes Stilmerkmal seiner Werke. Nicht wie Michelangelo ließ er manche unvollendet, weil es ihm an Geld oder der nötigen Selbstsicherheit fehlte. Er integrierte das Fragmentarische als ausdruckstragendes Stilmittel. Auch weit seiner Zeit voraus war er mit seinen Assemblagen, wobei er durch die Neu-Kombination von Teilen bereits bestehender Werke andere Sinnzusammenhänge erschloss.

Rodin wurde am 12. November 1840 in Paris geboren. Er entdeckte sein Interesse für die Bildhauerei ab 1854 an der Petite École, die eigentlich für die Ausbildung von Kunsthandwerkern bestimmt war. Während seiner dreijährigen Schulzeit versuchte er mehrmals vergeblich, an der berühmten École des Beaux-Arts aufgenommen zu werden – vielleicht eine glückliche Fügung, denn an dieser Schule wäre er strenger an die klassischen Normen gebunden gewesen. Nach dem Tod seiner Schwester 1862 trat er in den Orden der Pères du Saint-Sacrement ein. Doch nicht das Priesteramt entpuppte sich als seine Berufung, sondern die Kunst: In einer Bretterbude im Ordensgarten widmete er sich seiner Leidenschaft. Zwei Jahre später wurde Rodin Schüler von Albert-Ernest Carrier-Belleuse, folgte diesem 1870 nach Brüssel, aber trennte sich nach heftigen künstlerischen Konflikten wieder von ihm. In der Folgezeit führte Rodin öffentliche Aufträge aus und erfuhr dadurch seine erste künstlerische Anerkennung. In den Jahren 1875/76 unternahm Rodin eine Studienreise nach Italien, um das Geheimnis Michelangelos zu entschlüsseln. 1877 kehrte er nach Paris zurück, 1880 erhielt er den Auftrag, das Portal für das Musée des Arts Décoratifs zu gestalten. An diesem ‚Höllentor’ arbeitete er annähernd 37 Jahre, ohne es zu vollenden. Doch einige Figuren daraus, wie auch ‚Der Denker’, isolierten sich aus ihrem ursprünglichen Kontext und erhoben sich zu eigenständigen Kunstwerken. Drei Jahre später lernte Rodin Camille Claudel kennen, die ihm in den folgenden 15 Jahren als Assistentin, Modell und Geliebte zur Seite stand.

Zwischen 1886 und 1890 erhielt Rodin die Aufträge für einige seiner berühmtesten Werke, ‚Die Bürger von Calais’, die Skulptur Victor Hugos und das Porträt von Honoré de Balzac; gegen Ende der 90er schaffte er den öffentlichen Durchbruch. Rodin ließ sich 1894 in Meudon nieder und scharte dort einen Kreis junger Schriftsteller und Künstler um sich. Es folgten zahlreiche Ausstellungen, u.a. bei der Weltausstellung in Paris (1900), und Ehrentitel von Universitäten. Im Jahr 1895 beauftragte Aristóbolu del Valle von der Kunstkommission von Buenos Aires den französischen Bildhauer mit einem Denkmal für den ehemaligen Präsidenten Domingo Faustino Sarmiento. Somit war Buenos Aires eine der ersten Städte der Welt, die das seltene Privileg erhielt öffentlich eine Skulptur von Rodin auszustellen – auch wenn Rodin nicht bezahlt werden konnte, weil die Bank, in welcher die Geldmitteln angelegt waren, bankrott machte. Dennoch wurde das Monument am 25. Mai 1900 in den Gärten von Palermo eingeweiht. 1907 bezog Rodin sein Stadtatelier im Hôtel Biron, das heute das Musée Rodin beherbergt. In dem Buch ‚Die Kunst’ verewigte er 1911 seine Kunsttheorie. Im Alter von 76 Jahren heiratete Rodin eine andere langjährige Lebensgefährtin, Rose Beuret, die er bereits 1864 kennengelernt hatte. Am 17. November 1917 starb er in Meudon.

Die Ausstellung im Museo Nacional de Arte Decorativo ist nicht die einzige Möglichkeit in Buenos Aires, Rodins Werke zu bewundern. Wer sie verpasst, kann sich in der Dauerausstellung des Museo Nacional de Bellas Artes 16 Werke des Künstlers aus Marmor, Bronze und Gips, sowie eine Terrakotta-Studie von dem ‚Kuss’ ansehen. Außerdem gibt es schon einige Regierungsinitiativen, unter anderem der Abgeordneten von Buenos Aires Teresa Anchorena (Coalición Cívica), den ‚Denker’ auf dem Plaza Lorea zu retten, und ihn auf seinen ursprünglichen Bestimmungsort, die Stufen des Kongresses, zu verlegen. Dies soll innerhalb des nächsten Monats geschehen. Vielleicht erhält er dort die Wertschätzung, die ihm gebührt.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 19.07.08.

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