Konstrukteur anderer Welten

Ingo Günther stellte in Buenos Aires eine Anthologie seiner Werke vor

Von Hanna Jochims

Ig3.jpg
“Ich möchte die Welt verstehen”, ist die Motivation des deutschen Künstlers Ingo Günther.

“Wenn man sich für Kunst interessiert, aber kein Talent hat, ist es sehr schwierig, etwas zu machen. Und so hat bei mir Technologie Talent ersetzt.” Ingo Günther, 1957 in Dortmund geboren und aufgewachsen, kann auf eine sehr sympathische Art und Weise bescheiden sein. Das Euroamerikanisches Festival für Film, Video und Digitalkunst, MEACVAD08 hat ihn eingeladen, eine Anthologie seiner Werke vorzustellen. Mit mehreren Preisen ausgezeichnet, lehrte er an verschiedenen Kunsthochschulen, wurde in den renommiertesten Kunstzentren der Welt ausgestellt – unter anderem auf der Biennale in Venedig und Fukui in Japan, auf der documenta in Kassel oder auf der Ars Electronica in Linz – und eröffnete seinen Vortrag im Goethe-Institut Buenos Aires am vergangenen Donnerstag so: “Danke, dass Sie 1 ½ Stunden Ihrer Zeit opfern, ich hoffe, es wird nicht langweilig.”

Wurde es nicht. Auch nach zwei abendfüllenden Präsentationen des in New York lebenden Künstlers bleibt das Gefühl, gerade erst einen kleinen Einblick in die umfangreiche und extrem vielschichtige Arbeit Günthers bekommen zu haben.

Anfang der 80er Jahre entstehen seine ersten Projekte – “die übrigens sehr preiswert waren – Ökonomie ist in den Medien ja immer ganz wichtig”, erzählt Günther und fährt fort: “Ich wollte früher nie Videokünstler sein, denn das bedeutete, sich in eine Art Ghetto zu begeben.”

Technische Probleme, Schwierigkeiten mit der Präsentation machen normale Ausstellungen unmöglich. Schlechte Bedingungen, die für Günther aber auch Antrieb waren: Aus seiner Frustration habe er auch Motivation schöpfen können. Eine Motivation, die sich aus Ärger über bestehende Zustände entwickelt – diese Dynamik steht hinter vielen von Ingo Günthers Arbeiten.

1987 wird aus dem Video-Ghetto, aus der Nische, “plötzlich eine Art Refugium”. Günther erhält eine Einladung zur documenta nach Kassel. Er gestaltet einen Raum, der komplett mit Marmor ausgekleidet ist. In der Mitte ein Block, auf den aus der Decke Satellitenaufnahmen von AWACS-Flugzeugen projiziert wurden. Für die nicht an Projektionen gewöhnten Zuschauer sah das Ganze nach Magie aus. “Sie fragten sich: Kommt das Bild aus dem Stein?”, berichtet der Künstler. Die Daten stammten aus einem “Ausflug in den Journalismus” – Günther war als Korrespondent bei den Vereinten Nationen in New York akkreditiert.

Nach dem Fall der Berliner Mauer sieht Ingo Günther eine Chance, seine als passiv empfundene Position als Medienkünstler zu verlassen. Er fliegt nach Deutschland und baut innerhalb von zwei Wochen in Leipzig einen Piratensender auf. “Die Mediengesetze waren außer Kraft gesetzt, diese Situation haben wir genutzt.” Im Sender werden später Journalisten ausgebildet, er sendet mehrere Jahre lang aus dem Leipziger Haus der Demokratie.

Staatskonkurrent und Geschichtsschreiber

“Ich bin ein zutiefst politischer Mensch, der gerne auf allen Ebenen mit dem Staat konkurriert, nicht nur in den Medien”, sagt Günther über sich. Staatssymbole, insbesondere Flaggen wecken sein Interesse. “Flaggen sind als Symbol eines Staates extrem abstrakt, ein paar Farbbalken reichen aus, um Menschen zu Tränen oder sogar in den Tod zu treiben.” Er beginnt, eigene zu entwerfen, so zum Beispiel zu Beginn des Golfkriegs 1990 Flaggen für Märtyrer, Überlebende, Flüchtlinge.

Anfang der 90er Jahre recherchiert und schreibt Günther für die taz über kambodschanische Flüchtlingscamps in Thailand. Die Berichterstattung empfindet er als “ständiges Lamento über die Situation der armen Flüchtlinge” und als für ihn unbefriedigend. Aus dem Versuch, eine positive Geschichte zu schreiben, entsteht das Projekt “Refugee Republic”, an dem Günther seitdem kontinuierlich weitergearbeitet hat. In der Refugee Republic sind – in Anlehnung an Beuys` “Kunst = Kapital” – die Flüchtlinge Kapital. Die Republik hat eine Flagge, deren “RR” stark an das Rolls Royce-Logo erinnert, Geld, Pässe, eine eigene Homepage. Diese sieht zeitweilig der offiziellen Seite des Flüchtlingshilfswerks der UNO (UNHCR) so ähnlich, dass Günthers Versuch, über die Seite “Flüchtlingsaktien” zu verkaufen, zu empörten Anfragen führt: Finanziert sich so etwa die UNO?

In einer seiner Installationen findet sich der Flüchtlingstext auf Neonröhren gedruckt. Diese hängen über den auf dem Fußboden eingezeichneten Ländergrenzen – um den Text zu lesen, müssen Grenzen überschritten werden. In der platzsparenden Version sind die Röhren um einen Globus gewickelt.

Globen2.jpg
Eine andere Sicht auf die Welt – Globen aus dem Projekt Worldprocessor.

Globen sind es auch, die den zweiten Teil des Vortrags dominieren. Das von Günther so bezeichnete “Mapping”, die ganze Welt als Thema, taucht schon in seinen frühen Arbeiten auf. Seit Ende der 80er Jahre vorwiegend in Kugelform: Innerhalb von 20 Jahren produziert er über 1000 Globen zu mehr als 350 verschiedenen Themen. “Dinge sichtbar machen, die unanschaulich sind – das war mir ein Anliegen”, so Günther, und: “Ich dachte: Den Globus kann ich neu erfinden.”

Das Projekt “Worldprocessor” wäre wohl am Finanziellen gescheitert – wenn Günther nicht das weltpolitische Geschehen in die Hände gespielt hätte: Nach dem Fall der Mauer und der Neuordnung der alten Ostblockstaaten mussten neue Globen her. Die alten, die zuvor 100 DM kosteten, waren nun für fünf zu haben. “So konnte ich meinen enormen Bedarf decken – viele gingen ja schon bei der Produktion kaputt”, erinnert sich Günther. Auf den Weltkugeln zu sehen: Das Vorkommen von Landminen auf der Welt, Länder ohne direkten Zugang zum Wasser, das Volumen und die Vernetzung der Kommunikation über Fiberoptikkabel, die Routen, über die die US-Airforce innerhalb von drei Stunden fast jeden Ort der Erde erreichen kann – so politisch brisant und schwer verdaulich die Aussagen der dargestellten statistischen Werte oft sind, immer sind sie sehr ästhetisch.

Am Ende des zweiten Vortragsabends, eine der Fragen aus dem Publikum: Wie versteht er, Ingo Günther, sich selbst, sich als Künstler? Günthers Antwort: “Mich selbst zu verstehen, habe ich schon lange aufgegeben. Ich möchte die Welt verstehen.”

Mehr Informationen zu Ingo Günther und seinen Arbeiten in der “Republik” und auch im Worldprocessor.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 08.11.2008.

Escriba un comentario