“Ordnung langweilt mich”

Ein Interview mit dem argentinischen Künstler Luis Felipe Noé

Von Maria Exner

noe11.jpgAm 5. Oktober 1959 eröffnete die Galerie Witcomb im Zentrum von Buenos Aires die erste Einzelausstellung von Luis Felipe Noé – der Ausgangspunkt eines bewegten Künstlerlebens. Genau 50 Jahre später widmet jetzt die Galerie Rubbers dem großen argentinischen Maler eine Werkschau unter dem Titel “Y son cincuenta, sin cuento” – “Es sind 50, im Ernst!”. Erst im Mai vertrat Luis Felipe Noé Argentinien mit zwei großformatigen Werken bei der Biennale in Venedig. Ein Beleg seiner enormen Popularität. In einem Gespräch berührte der Maler, Kunsttheoretiker und Autor Themen wie das Konzept der Zeit, das Durcheinander in der Welt und Buenos Aires…

In einem jüngeren Selbstbildnis von Ihnen findet man die Frage “¿Dónde está el tiempo?” Fragen Sie sich, wo seit Ihrer ersten Ausstellung die Zeit geblieben ist?

Noé: Für mich ist die Zeit das große Mysterium der Welt. Nach all den Erfahrungen, die ich gemacht habe, verwundert mich nichts so sehr wie sie. Es gibt eine chronologische und eine subjektive Zeit. Wenn man zum Beispiel Schmerzen hat, können sich wenige Minuten wie Stunden anfühlen. Alles ist so subjektiv, alles ist immer in Bewegung. Das Bild, von dem Sie reden, heißt “Zu Besuch in dieser Welt”. Ich spreche darin über das, was ich “erlebe” und das bewegt sich ständig, überkreuzt sich. Das ist es, was mich interessiert. “¿Dónde está el tiempo?“ – diese Frage, das bin eigentlich ich.

Ihre neueren Werke zeigen mehr denn je Szenen eines Strudels des Lebens. Ist das Chaos noch immer das bestimmende Thema Ihrer Arbeit?

Noé: Ich interessiere mich immer noch für das Chaos, aber derzeit suche ich vor allem nach einer Möglichkeit, Widersprüche, die in meiner Wahrnehmung gar keine sind, miteinander zu vereinen. Ich versuche, den Unterschied zwischen Abstraktion und der figurativen Darstellung zu überwinden. Dann interessiert mich die Trennung zwischen Gemälde und Zeichnung. Ich finde die Unterscheidung nutzlos; als ob man behaupten würde, ein Klavierkonzert und ein Violinkonzert seien zwei völlig unterschiedliche Dinge. Beides ist Musik.

Die 50er und 60er Jahre waren eine Zeit der politischen und sozialen Einschränkung des Individuums. War die Kunst Ihr Mittel zum Ausbruch?

Noé: Häufig werde ich gefragt: Welcher Künstler hat Sie am meisten beeinflusst? Ich lehne es ab, diese Frage zu beantworten. Aber wenn ich eine Antwort gebe, dann diese: Der Künstler, der mich am meisten beeinflusst hat, ist Juan Perón. Ich komme nicht aus einer peronistischen Familie und Perón war natürlich kein Künstler. Aber ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als ganz Argentinien in einer Art Fieber lag. Ich habe das gespürt und fing an zu malen. Damals hieß es oft, meine Werke wären keine Einheit. Und ich dachte: Wovon reden sie? Wie soll ich eine Einheit darstellen, wenn um mich herum Chaos herrscht? In dieser Hinsicht hat diese Zeit mich und meine Bilder sehr geprägt.

Bemerken Sie Veränderungen, die mit dem Alter zusammenhängen?

Noé: Wissen Sie, ich bin immer noch der Gleiche. Natürlich sieht man, dass ich mich verändert habe, wenn man ein Foto von mir als 30-Jährigem und eines von heute miteinander vergleicht. Aber an sich bin ich der gleiche Mensch, der gleiche Künstler.

Entdecken Sie heute Sujets oder Techniken von sich aus früheren Werken wieder?

Noé: Das Leben eines Künstlers ist wie eine Zugfahrt, man passiert verschiedene Stationen, aber man sitzt immer im gleichen Zug. Der Zug meines Lebens fährt Runden und ich greife jetzt tatsächlich Dinge wieder auf. Zum Beispiel die Norm des Rahmens zum Teufel zu jagen und installationshafte Bilder zu machen, so wie in den 60er Jahren. Es gab auch eine Zeit, in der ich nicht gemalt habe. Mir fehlte etwas Wichtiges im Leben, also ging ich zu einer Gesprächstherapie. Während ich erzählte, zeichnete ich Figuren, Menschen in Zuständen der Zerrissenheit. Ähnliche Figuren integriere ich heute in meine Gemälde.

Sie kennen Buenos Aires seit Ihrer Kindheit – wie erleben Sie die Stadt im Hier und Jetzt?

Noé: Ich glaube, Buenos Aires ist das komplette Gegenteil der Werte und Konzepte der westlichen Welt. Buenos Aires ist die chaotischste, zerrissenste Stadt – und das fasziniert mich. Ordnung langweilt mich. Ich glaube, wenn ich woanders geboren worden wäre, wäre mir das Durcheinander auf der Welt nie so bewusst geworden. Meine Malerei wäre eine andere.

Was sind Ihre nächsten Projekte?

Noé: Am liebsten möchte ich ein Buch schreiben, über das ich schon länger nachdenke. Aber es fällt mir schwer, das Thema ist kompliziert. Der Titel soll lauten: “Der Striptease der Malerei”. Meine These ist, dass die Malerei sich in der Konzeptkunst komplett ausgezogen hat. Und nun steht sie nackt da! Und wie sieht er aus, der Körper dieser nackten Malerei? Das ist die Frage, die ich mir stelle. Aber vorher werde ich einen Doppelband fertigstellen. Der eine Teil ist ein Bildband mit meinen Arbeiten und der andere ist ein Zeugnis von mir als Künstler.

Keine Autobiografie?

Noé: Nein, ich finde mich selbst nicht so interessant. Es gibt ein paar Seiten über meine Kindheit, aber eigentlich halte ich darin fest, was mich als Künstler bewegt. Und ansonsten male ich natürlich weiter.

noe1.jpg
Das Selbstporträt “De visita en este mundo” (2004) von Luis Felipe Noé.

Escriba un comentario