Eine Ausstellung, die keinen kalt lässt
Das Anne Frank Zentrum in Buenos Aires
Von Marcus Christoph
Sie gilt als Symbolfigur für die Opfer des Holocausts: das jüdisch-deutsche Mädchen Anne Frank. Das Tagebuch, in dem die Heranwachsende ihre Erlebnisse im Versteck eines Amsterdamer Hinterhauses bis zur ihrer Verhaftung und Deportation festhält, gehören zu den ergreifendsten Zeugnissen über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Seit wenigen Monaten gibt es in Buenos Aires einen Ort, der dem Mädchen, das Anfang 1945, gerade 15-jährig, im KZ Bergen-Belsen ums Leben kam, gewidmet ist: Das Anne Frank Zentrum (Centro Ana Frank Argentina) im Stadtteil Belgrano in der Straße Superí 2647. Dieses will dem Besucher auf interaktive Weise den Lebens- und Leidensweg des verfolgten Mädchens und ihrer Familie näherbringen und somit das Gedenken an das unfassbare Geschehen wachhalten.
„Annes Schicksal zeigt an einem individuellen Beispiel, was die Shoa war“, fasst Héctor Shalom zusammen. Der gelernte Psychologe ist Direktor des Zentrums, das er mit vier weiteren festen Mitarbeitern und zahlreichen freiwilligen Helfern betreibt. Die Ausstellung, die den Titel „Ana Frank – Una historia vigente“ (Anne Frank – hier und heute) trägt, beginnt im Erdgeschoss mit einer Bilderpräsentation. Gezeigt werden persönliche Ereignisse aus dem Leben Annes und parallel dazu die politischen Entwicklungen in Deutschland beziehungsweise Europa. Die Familie Frank emigrierte bereits 1933 nach Holland, wo sie zunächst – im Gegensatz zu Juden im Deutschen Reich – ein normales Leben führen konnte. Dies wird deutlich bei der Gegenüberstellung der Fotos: Während Anne und ihre Schwester Margot Ende der Dreißigerjahre in ungetrübter Stimmung am Strand zu sehen sind, brennen in Deutschland bereits die Synagogen, wenig später bricht Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaun. Alles änderte sich für die Franks im Mai 1940 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Holland, das von da an besetzt war. Einschränkungen und Diskriminierungen für Juden ließen nicht lange auf sich warten. Den Entschluss unterzutauchen fassten Annes Eltern im Juni 1942, als die Nazis die ältere Tochter Margot in ein Arbeitslager nach Deutschland bringen wollten. In dieser Zeit begann Anne mit den Aufzeichnungen in ihrem Tagebuch, das sie kurz zuvor zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Dafna Nudelman ist eine der rund 50 jungen Helfer, die Schulklassen durch die Ausstellung führen.
Zwei der Räume, in denen die Familie Frank zusammen mit vier weiteren Personen während der nun kommenden gut zwei Jahre im Versteck lebte, sind im zweiten Stock der Ausstellung originalgetreu nachgestellt. Wie seinerzeit im Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht 263 ist der Zugang durch ein Regal getarnt, das sich wie eine Tür öffnen lässt. Dahinter befindet sich der Hauptraum mit Küche, Schlafstelle und Waschbecken. Daran schließt das Zimmer an, das sich Anne mit dem jüdischen Zahnarzt Fritz Pfeffer teilen musste. Arbeitskollegen von Otto Frank halfen den Versteckten. Diese konnten nicht nach draußen gehen und mussten ständig darauf bedacht sein, keine lauten Geräusche zu verursachen. Die Enge und die Bedrückung kann der Besucher in den Ausstellungsräumen hautnah spüren.
Das Bild zeigt einen original nachgestellten Aufenthaltsraum der Familie Frank im Amsterdamer Versteck.
Schließlich führte ein bis heute nicht endgültig geklärter Verrat dazu, dass die Gestapo von dem Unterschlupf erfuhr und die Versteckten am 4. August 1944 verhaftete und deportierte. Zunächst in das Durchgangslager Westerbork, dann am 3. September nach Auschwitz. Es war überhaupt der letzte Zug, der in das berüchtigste deutsche Vernichtungslager ging. Wenige Wochen danach begannen die Nationalsozialisten angesichts der näherrückenden Roten Armee, das Lager zu evakuieren. Dadurch kamen Anne und ihre Schwester Ende Oktober 1944 ins Lager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide, wo sie im März ’45 durch Entkräftung und Typhus ums Leben kamen. „Sie starben nur wenige Wochen vor der Befreiung durch die Briten“, beschreibt Héctor Shalom die Tragik. Otto Frank überlebte als Einziger der Versteckten den Holocaust. Nach dem Krieg fand er in dem Amsterdamer Hinterhaus das Tagebuch seiner Tochter und kümmerte sich in den folgenden Jahren um dessen Veröffentlichung.
Die Geschehnisse werden durch Bilder, Texte und Gegenstände im Zentrum dokumentiert. Zudem gibt es eine Wanderausstellung, die bereits in zahlreichen Städten des Landes zu sehen war. Eine Besonderheit des Anne Frank Zentrums in Buenos Aires ist ein Ausstellungsteil, der sich unter dem Titel „Von der Diktatur zur Demokratie“ mit dem Militärregime in Argentinien (1976 bis ’83) auseinandersetzt. Ein Raum ist dem Bildungsprogramm „Free2Choose“ gewidmet. Zu sehen sind hier Filmclips mit zwölf Jugendlichen aus verschiedenen Kulturräumen, die sich zum Thema Freiheitsrechte äußern.
Im Außenbereich geht es auch um Antisemitismus der Gegenwart: Hier befindet sich eine Gedenkstätte für die 85 Opfer des Bombenanschlags auf das jüdische Gemeindezentrum Amia in Buenos Aires vor 15 Jahren. Im Garten ist eine Kastanie in Gedenken an Anne Frank gepflanzt. Verwendet wurde hierfür der Samen des Baumes, den Anne von ihrem Amsterdamer Versteck aus sehen konnte. Im Tagebuch schreibt das Mädchen, dass dieser ihr Hoffnung gab und Trost spendete.
Im Außenbereich wird der 85 Toten des Anschlags auf das jüdische Gemeindezentrum Amia vor 15 Jahren gedacht.
Die Entscheidung, nach Amsterdam, New York, London und Berlin auch in Buenos Aires einen Ort des Gedenkens für Anne Frank zu schaffen, begründet Héctor Shalom damit, dass hier rund 300.000 Juden leben und es somit eine starke jüdische Gemeinde gibt. Allein 8000 Überlebende des Holocausts seien hierher gekommen. Auf der anderen Seite habe Argentinien auch rund 1500 geflohene Nazis aufgenommen, so dass der Kampf gegen den Antisemitismus stets aktuell war und ist, erläutert der Zentrums-Direktor. Das Haus wurde von einer Stifterin zur Verfügung gestellt, die selber zu Zeiten der Militärdiktatur Verfolgten Unterschlupf gewährte und in ihrem Testament festlegte, dass das Anwesen für soziale Zwecke genutzt werden solle. Nach ihr heißt das Haus „Casa de Hilde“.
Nach Meinung von Héctor Shalom eignet sich das Schicksal der Anne Frank besonders gut, um Jugendliche für das Thema der Shoa zu sensibilisieren. „Anne Frank hat eine starke Wirkung. Sie war in demselben Alter wie viele der Schüler, die das Zentrum heute besuchen. Sie fühlen sich ihr nahe und können sich mit ihr identifizieren“, meint Shalom. Pro Tag kommen eine oder zwei Schülergruppen à 50 Personen. Die freiwilligen Helfer, meist Studenten, geben ihnen einen Einblick in die Ausstellung, die dienstags bis sonnabends von 14 bis 19 Uhr geöffnet ist. Zur Vertiefung hat das Zentrum auch ein Buch mit dem Titel „Testimonios para nunca más“ (Zeugnisse, damit es nie wieder geschieht) herausgegeben, das die Themen der Ausstellung aufgreift. Neben der Geschichte der Anne Frank geht es auch um die Militärdiktatur in Argentinien und Diskriminierungen in der Gegenwart.
Für Führungen kann man sich unter der Telefonnummer 3533 8505 anmelden. Die Kontaktadresse für Volontäre (freiwillige Helfer) ist: voluntarios.anafrank@gmail.com.
Direktor Héctor Shalom freut sich auf Besucher im neuen Anne Frank Zentrum.
(Fotos: mc)