Goldbären in Reih und Glied
60 Jahre Berlinale im Leopoldo Lugones-Saal des San Martín-Theaters
Von Valerie Thurner
Die Berlinale feiert dieses Jahr Geburtstag und dies wird nicht nur in Europa, sondern auch hier gefeiert. So widmet das San Martín-Theater in Zusammenarbeit mit der Fundación Cinemateca Argentina und dem Goethe-Institut dem bedeutenden Filmfestival die Retrospektive “60 años de la Berlinale”. Der Kurator und Filmkritiker Luciano Monteagudo hat einen reichhaltigen Zyklus der 32 besten Gewinnerfilme aus einem halben Jahrhundert zusammengestellt, einen historischen Querschnitt des Festivals, so dass nun auch die Porteños ihre Berlinale haben.
Die Berlinale ist nach Cannes das wohl wichtigste Filmfestival Europas, wo viele bedeutende Autorenfilmer ihren internationalen Durchbruch feiern durften. Das Festival hat stets mutige und kontroverse Werke honoriert, viele von ihnen sind als Wegbereiter in die Kinogeschichte eingegangen. So zeigt der Zyklus viele filmhistorische Schlüsselwerke aus Ländern wie Frankreich, Italien, Deutschland, Schweden, aber auch aus Argentinien, Spanien, England und den USA. Stilistische und narrative Rebellen wie Ingmar Bergman, Akira Kurosawa und vor allem die Vertreter der Neuen Wellen der 60er Jahre, die das Kino grundlegend revolutionierten, haben bei der Berlinale regelmäßig Trophäen gewonnen. Gesellschaftskritische, kontroverse Filme, die einerseits politisches Aufsehen erregten oder andererseits Psychogramme einer neuen Generation sensibel oder radikal zeichneten: ergreifend, witzig und innovativ.
Den Auftakt bildet am heutigen Donnerstag Ingmar Bergmans “Wilde Erdbeeren” (1957), ein sensibel gestaltetes Meisterwerk um Leben, Gott und Tod, ein psychologisches Charakterporträt, das realistische und surreale Stilmittel miteinander verschränkt. Formal stilbrechend war auch der Japaner Akira Kurosawa, ein Geheimtipp unter Cinephilen, der das Filmschaffen nachhaltig beeinflusst hat. “Die verborgene Festung” (1958; am 12.2.) gilt als eine der besten Abenteuergeschichten der Kinogeschichte und hat eine ganze Generation von Filmemachern geprägt. George Lucas’ “Krieg der Sterne” war direkt von diesem Film beeinflusst.
Kurosawa etablierte im Nachkriegskino die Figur des Antihelden. Meist im historischen Kaiserreich verortete Samurai-Mythen, sind Kurosawas Filme als Parodien des japanischen heldenhaften Historienfilms zu begreifen.
Der Zyklus zeigt ebenfalls Antiheldengeschichten der französischen Nouvelle Vague mit Protagonisten wie Jean-Luc Godard, Alain Resnais und dem kürzlich verstorbenen Eric Rohmer. Der am heutigen Samstag im Lugones-Saal gezeigte “Außer Atem” (1959) war der erste Langspielfilm des großen Meisters Godard, eine Hommage an den Film Noir der 40er Jahre und sein internationaler Durchbruch, weil vor allem die filmtechnischen Mittel wie Handkamera, Jump-Cuts oder Jazzmusik bahnbrechend waren. Der junge Belmondo hat in diesem leichtfüßigen bis romantischen Klassiker des Roadmovie eine Paraderolle als Kleinkrimineller.
Das deutsche Kino der 60er und 70er Jahre ist mit Alexander Kluge, Werner Herzog oder Rainer Werner Fassbinder ebenfalls gebührend vertreten. Die “Neue Welle” bahnte damals cineastisch den Weg für die Aufarbeitung der Schreckenstaten des Dritten Reiches und die Lösung der kulturellen Lähmung innerhalb des deutschen Bürgertums. Die sensibel gezeichneten Milieustudien von Rainer Werner Fassbinder (“Die Ehe der Maria Braun”, am 27.2.; “Die Sehnsucht der Veronika Voss”, am 1.3.) schildern die Leiden weiblicher Protagonisten. Fassbinder, ein Meister der Farbdramaturgie, hatte eine Vorliebe für weibliche Helden und arbeitete stark melodramatisch, was man im späteren Kino beispielsweise bei Pedro Almodóvar wiederfindet.
Das legendäre Kollektivprojekt “Deutschland im Herbst” (1977/8; am 26.2.) über die Attentate der RAF Ende 1977 u.a. von Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge oder Volker Schlöndorff war ein Stilmix von dokumentarischen Aufnahmen und Erzählkino.
Pier Paolo Pasolini, ein radikaler Freigeist gehörte zu den kompromisslosesten Bloßlegern der menschlichen Abgründe und der gesellschaftlichen Doppelmoral. “Decameron” (1971, am 20.2.), Teil seiner preisgekrönten “Trilogie des Lebens”, ist eine bitterböse, groteske Parabel auf die Kommunikationsstörungen der bürgerlichen Gesellschaft und die Gewaltbereitschaft in sich wendenden Herrschaftsverhältnissen. Seine offene Kritik an den korrupten Strukturen in Italien und seine Bekenntnis zur Homosexualität bezahlte Pasolini schließlich mit dem Leben. Er wurde im Herbst 1975 brutal ermordet.
Ein Verfolgter war auch der polnische Filmemacher Roman Polanski, dessen neuester Film “The Ghostwriter” bei der diesjährigen Berlinale uraufgeführt wird. Seine Erfahrung im Warschauer Ghetto, der faschistischen Unterdrückung hat sein Leben wie seine Filme stark geprägt. Das San Martín zeigt seine Filme “Ekel” (1965, am 17.2.), ein Psychogramm des Wahnsinns mit Catherine Deneuve in der Rolle einer jungen Frau, die langsam den Bezug zur Realität verliert, sowie “Cul-de-sac” (1966, am 18.2.), den Polanski persönlich für seinen besten Film hält.
Das Drama “La Patagonia rebelde” (1974, am 23.2.) von Héctor Olivera schildert den Arbeiteraufstand der 1920er Jahre in Patagonien, der vom Militär blutig niedergeschlagen wurde, und handelte dem Schauspielerensemble Ärger mit dem Regime ein; man muss sich vor Augen halten, dass dieser Film nur wenige Monate nach dem Putsch in Chile in die Kinos kam, und es fehlten wenige, bis Argentinien ebenfalls vom Staatsterror zerfressen wurde. Olivera zählt zu den wichtigsten Regisseuren Argentiniens.
Auch nicht fehlen darf der bedeutendste Regisseur des italienischen Gegenwartskinos Nanni Moretti, dessen Komödien mit selbstironischem Unterton inzwischen nicht nur in Italien Kultstatus haben. Moretti verwebt autobiographische und fiktive Elemente zu humorvollen bis tragischen Geschichten, erzählt aus dem Protagonisten in Ichperspektive, wobei er meist selbst die Hauptrolle übernimmt. “Die Messe ist aus” (1985, am 7.3.) war Morettis erstes Drama, in dem er die Übertreibung seiner Komödien nun in den Dienst einer grundsätzlich ernsten Handlung stellte. Moretti trat hier als junger Priester auf, der schmerzhaft erfährt, dass seine Aufgabe in einer gewandelten Gesellschaft sehr herausfordernd ist. Im Zentrum standen Konflikte mit alten Freunden der 68er-Bewegung und Familienmitgliedern.
Auch das “Nuevo Cine Argentino”, das seit den Neunzigerjahren zahlreiche Festivalerfolge verzeichnet hat, wurde in Berlin ausgezeichnet. Lucrecia Martels “La ciénaga” (2001) und Daniel Burmans “El abrazo partido” (2003) erhielten Preise und werden im Lugones-Saal gezeigt, beide je zweimal am 14. März.
Fatih Akins ergreifendes Drama “Gegen die Wand” rundet die Retrospektive am 15.3. würdig ab; Der Film des Sohnes von türkischen Einwanderern bescherte der Berlinale 2005 einen verdienten einheimischen Siegerfilm. Er erzählt in seinem intensiven, vibrierenden Film die Sehnsucht und den Lebenshunger einer jungen Türkin in Deutschland, die bei einer Gratwanderung zwischen zwei Kulturen versucht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Abschlussfilm der Retrospektive erzählt vom Konflikt der Heimatlosigkeit und der Suche nach Identität.
“60 años de la Berlinale”, vom 11. Februar bis zum 15. März, Teatro San Martín, Leopoldo Lugones-Saal, Av. Corrientes 1530, Buenos Aires, Eintritt $ 10.-, ermäßigt $ 5.-. Die Karten können bis zu sechs Tage im Voraus (einschließlich des Vorstellungstages) an den Theaterkassen des San Martín-Theaters erworben werden.
Infos hier.