Das schlimmstmögliche Szenario

Wie würde die Welt nach einer Katastrophe aussehen?

Von Friedbert W. Böhm

katastrophe11.jpgIn meinen bald 70 Jahren habe ich kaum ein eindrucksvolleres Buch gelesen als den Weltbestseller “Arm und Reich” (“Guns, Germs, and Steel”, 1997) von Jared Diamond. Er beschreibt hier überzeugend die Schicksale menschlicher Gesellschaften seit 13.000 Jahren. Jared Diamond ist ein Universalgelehrter wie es sie kaum noch gibt: Arzt, Historiker, Geograph, Evolutionsbiologe, Anthropologe, Paläontologe, außerdem, soweit ich es beurteilen kann, ein ausgeglichener und humorvoller Mann.

Auf die Frage, wie die Erde nach einer Klimakatastrophe aussehen könnte, antwortete er unlängst: “Stellen Sie sich vor, die ganze Welt wäre heute wie Somalia oder Haiti. Dann haben Sie das schlimmstmögliche Szenario. Leider ist es alles andere als unwahrscheinlich. Wenn wir so weitermachen, kommen wir in 30 Jahren dahin.”

Hoppla! Wie es in Haiti zugeht, wissen wir seit einigen Wochen ziemlich genau. Und bezüglich Somalia erinnern wir uns, dass dort die Vereinten Nationen vor einigen Jahren daran scheiterten, einen völligen Verfall des Staates zu verhindern. Seitdem regieren tyrannische Landlords und Piraten. Die Bürger sind am Verhungern.

Es gehört allerlei Phantasie dazu, sich in eine solche Situation hineinzuversetzen. Ich stehe nicht an zu behaupten, dass die Generation meiner Kinder, aufgewachsen in der für Industrie- und Schwellenländer wie Deutschland und Argentinien sichersten und bequemsten Etappe der Menschheitsgeschichte, überhaupt nicht in der Lage ist, sich ein Leben unter haitianischen oder somalischen Umständen vorzustellen.

Auch mir fällt das schwer. Allerdings hilft mir die Erinnerung an die Kriegs- und Nachkriegszeit in Europa. Da die Lebensmittelzuteilungen höchst unzureichend waren, zog man, wenn man konnte, aus den zerstörten Städten zu Verwandten aufs Land oder tauschte dort das Familiensilber gegen ein Pfund Butter oder ein paar Eier. Wer einen Garten hatte, zog Obst und Gemüse, hielt ein Dutzend Hühner und vielleicht ein Schweinchen. Kein bisschen Bioabfall ohne Recycling! Selbst die Pferdeäpfel, die man auf der Straße fand (und wohl wieder finden wird) fanden als Kompost Verwendung. Der Ofen im einzigen winters beheizten Zimmer wurde mit Fallholz beschickt, das man sich im Wald suchen musste. Leichte Krankheiten kurierte man mit bewährten Hausmitteln, schweren erlag man einfach. Und was die Kinder nicht in der Schule lernen konnten, weil diese zerstört, ohne Heizung oder ohne Lehrer war, das brachte man ihnen zu Hause bei. Nicht zu denken an ein Auto, an Wasch-, Bügel- Geschirrspül-, Werkzeug- oder sonstige Maschinen, die Strom oder Sprit benötigen.

Es braucht nicht so schlimm zu, kann aber noch viel schimmer kommen. Und es kann ziemlich schnell gehen. Venezuela, eines der erdölreichsten Länder, das bis vor Kurzem hoffärtig Sprit sogar nach London verschenkte, steht kurz vor dem Energiekollaps. Und mit Iran wird es 11 atomar gerüstete Staaten geben, von denen mindestens 3 nicht die innere Stabilität und/oder den Wertekodex besitzen, welche heiße Kriege zwischen Atommächten bisher verhindert haben.

Sollte das schlimmstmögliche Szenario, der gesellschaftliche GAU, eintreten, würde es nicht, wie jetzt in Haiti, umfangreiche internationale Hilfestellung geben, weil jeder Erdenfleck genug mit sich selbst zu tun hätte. Ums Überleben wird jeder Einzelne sich zu kümmern haben. Längst in Vergessenheit geratene Fähigkeiten werden wieder gebraucht werden: Laufen, Treppensteigen, Fahrradfahren. Kochen, Brotbacken, Einmachen. Salat, Zwiebeln, Kartoffeln säen, pflegen, ernten. Bäume pflanzen, stutzen, fällen und Holz hacken. Vieh füttern, schlachten, abdecken, ausnehmen. Pökeln, Räuchern, Würste machen. Sägen, Hobeln, Schleifen. Graben, Mauern, Dichten, Dachdecken. Scheren, Spinnen, Färben, Weben, Zuschneiden, Nähen, Stricken, Häkeln. Leider wahrscheinlich auch Raufen, Fechten und Schießen.

Ich werde in 30 Jahren nicht mehr leben. Meine Kinder werden etwa so alt sein wie ich jetzt und meine Enkel sich überlegen, ob sie überhaupt noch Kinder haben wollen. Das wird ihnen leichter fallen, wenn sie außer Facebook (oder welche Spielchen es sonst geben möge) auch einige handfeste Dinge beherrschen. Ich will versuchen, ihre Eltern in dieser Richtung zu beeinflussen. Auch will ich ihnen nahelegen, sich beizeiten um ein fruchtbares, abgelegenes Stückchen Erde umzusehen, wo derartige Dinge praktiziert werden können.

Aber bitte nicht weitersagen! Sonst gibt es demnächst kein solches Stückchen Erde mehr.

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