Die Zeit läuft uns davon

Das Goethe-Institut zeigt im Palais de Glace die Ausstellung “Menos tiempo que lugar”

Von Valerie Thurner

goethe11.jpgDas Goethe-Institut zeigt im Palais de Glace eine thematische Gruppenausstellung anlässlich des Bicentenario. Südamerikanische und deutsche Künstler wurden eingeladen, sich künstlerisch zu diesem runden Geburtstag der politischen Unabhängigkeit Lateinamerikas zu äußern. Das Ausstellungsprojekt ist nun das Ergebnis einer langen vorausgegangenen Phase des Dialoges zwischen Künstlern und Autoren, die Texte zum 300 Seiten starken Begleitkatalog lieferten. Ein regionales Projekt, das die Bedeutung der politischen und kulturellen Unabhängigkeit künstlerisch und intellektuell untersucht und versucht, den Bedeutungsbogen des Begriffs der “Independencia” auf ihre Reichweite in die aktuelle Gegenwart des Subkontinentes zu überprüfen, beschreibt der Kurator Alfons Hug das Ziel des Projektes, das außerdem Wert auf den Austausch zwischen Deutschland und Lateinamerika lege.

Der Geräuschpegel im Palais de Glace ist beachtlich, unter den künstlerischen Medien dominiert lautstark die Videokunst, gefolgt von Fotografie, Installationen, und marginal Malerei. Alfons Hug begründet die Schwerpunktsetzung auf die audiovisuellen Medien in deren besonderen narrativen Strukturen, die sich gut für diese thematische Annäherung eigneten. Kuratorisch keine leichte Aufgabe, das Konzept basiert auf der Idee, einen historischen Textkorpus als Referenz herbeizuziehen, mit dem sich dann die Autoren und Künstler in ihren Arbeiten auseinandersetzen. Die Unabhängigkeit war primär ein politischer Befreiungsschlag, aber nachhaltig auch eine kulturelle und soziale Errungenschaft im Zuge der Demokratisierung, und dieser Nachhaltigkeit wollte Alfons Hug in seiner Schau auf den Zahn fühlen. Ein runder Geburtstag bietet die Chance auf Rückbesinnung, Reflexion und Standortbestimmung durch gezielte Aktionen.

Omnipräsent ist Simon Bolívars Befreiungstext, die “Carta de Jamaica”. Der Titel der Wanderausstellung (die Schau wird voraussichtlich in allen Ländern des Subkontinents, sowie in Mexiko und Europa stationieren) entstammt ebenfalls einer historischen Quelle, es handelt sich um die erste Zeile eines Gedichts von Mario Benedetti, das auf die Verschränkung von räumlicher und zeitlicher Dimension hinweist. Bedeutungsschwanger und metaphysisch verweist “Menos tiempo que lugar” auf den Kronotopos als intellektuelle Konstruktion. Wir haben viel Raum, während uns die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt.

Spurensuche und beißende Kritik

Die künstlerischen Herangehensweisen sind erfrischend und beweisen, dass akribische Genauigkeit einer wissenschaftlichen Spurensuche, parodistische Verspieltheit und provokative Ironie sich gegenseitig nicht ausschließen. Die Ausstellung bespielt zwei Etagen der Rombuskonstruktion, die meisten Arbeiten sind an den Außenwänden angelegt, zwei skulpturale Arbeiten haben ihren Platz in der Raummitte, prominent vor allem eine hölzerne unbegehbare Treppenkonstruktion des Kolumbianers Juan Fernando Herrán, die in den leeren Raum des Obergeschosses führt, wo ausschließlich Videokunst gezeigt wird.

Die polnisch-deutsche Künstlerin Agata Madejska begab sich auf Spurensuche in die präkolumbianische Epoche und hielt den Inka-Pfad in Ecuador und Peru fotografisch als stumme Zeugen aus der Vergangenheit fest. Auch Frank Thiels großformatige C Prints folgen historischen Wegen. Er fotografierte Bilder sowie das Motiv des Landschaftsmalers Edwin Church, der sich 1864 in Ecuador aufgehalten hatte und den höchsten Berg des Landes, den Chimborazo, malte. Zeitübergreifend ist nicht nur die Landschaft, sondern auch die Architektur.

Ein stummer Zeuge der Geschichte inspirierte den Ecuadorianer Pablo Cardosa, der die größte Zitadelle der westlichen Hemisphäre (gemäß Katalogtext) in Haiti fotografierte. Der Inselstaat war die zweite unabhängige Nation nach den Vereinigten Staaten und hat in diesem Jahr wenig Grund zu Feierlichkeiten. Das Jahrhunderbeben vom vergangenen Januar wurde implizit von Künstlern aufgegriffen oder eher die Tatsache, dass die Schäden und die Anzahl der Toten niemals so hoch wären, würden erdbebensichere Baubestimmungen durchgesetzt. Olaf Holzapfel nimmt in seiner Installation “Temporäres Haus” auf diese urbane unzulängliche Architektur Bezug, die einen Ring um alle Großstädte Lateinamerikas legt.

Die Armenviertel Medellíns kleben wie die Favelas in Rio an den umliegenenden Hügelflanken, so dass die Treppe als bauliches Element das Stadtbild der armen “Barrios” prägt. Die Treppenkonstruktion von Juan Fernando Herrán ist ein Bestandteil seiner fotografischen Arbeit “Escalas” und wurde aus Erdbebenholz gefertigt. Die Treppe als Symbol für Hoffnungen und Versprechen, die nie eingelöst werden.

Fernando Gutiérrez’ inszenierte Fotoserie “De Lima a Talcahuano” ist eine Parodie auf den Personenkult von militärischen Anführern. Der Peruaner reiste mit einem VW und seinem Konvoi, darunter ein “falscher” General Grau, zu den Schauplätzen des peruanisch-chilenischen Kriegs und gesellte sich zum Alltag der Bewohner. Auf eine diskretere Weise ironisch gibt sich der venezolanische Künstler Alexander Apóstol, der die “Carta de Jamaica” in ihrer Originalsprache in Englisch von Bewohnern eines Armenviertels in Caracas laut vor der Kamera rezitieren ließ. Die Frage drängt sich auf, was denn vom Bolívarschen Geist ideenhistorisch wie politisch umgesetzt wurde. Die Lesenden verstehen kein Wort vom Inhalt, was implizit auf den populistischen Personenkult eines Hugo Chávez verweist, der sich als neuer Befreier Lateinamerikas inszeniert, während es seinem Volk nicht wirklich besser geht. Wer wird von dieser jüngsten Vision eines vereinten Lateinamerikas profitieren?

Solche Fragen klingen im Palais de Glace an. Die Werke zeigen verschiedene Paradoxien auf, die die aktuelle Politik und die Gesellschaft der meisten Länder bestimmen. Die Porteña Leticia El Halli Obeid arbeitet sich an der “Carta de Jamaica” phsyisch wie intellektuell zugleich ab. Sie filmte sich selbst, wie sie im urbanen Zug durch Buenos Aires reist, vom Zentrum hinaus in die Vorstädte, und während sie die historische Schrift Wort für Wort abschreibt, sehen wir die Straßenzüge an uns vorbeiziehen.

Das Ende der Demokratie?

Der deutsche Künstler Bjørn Melhus weist in seiner Videoarbeit “Policía” auf das Paradoxon in einer Kontrollgesellschaft wie der Mexikos hin. Der rotierende Helikopter an Ort und Stelle ist ein beißender Kommentar zum hohlen Staat: Latente Überwachung innerhalb eines Landes, das mehr und mehr von Drogenbaronen und paramilitärischen Organisationen zerfressen wird, während es sich der politischen und juristischen Kontrollorgane entzieht.

Welche politische Unabhängigkeit feiern wir nun also dieses Jahr, und was sind die aktuellen wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen oder nicht zuletzt ökologischen Probleme, oder nennen wir es etwas positiver besetzt Herausforderungen? Gibt es Hoffnung auf eine lateinamerikanische Union, während neoliberale Ausbeutungsstrukturen zumindest in Argentinien den Mittelstand bedrohen? Was sind Demokratien wert, die von Korruption und einer sich selbst bereichernden Oberklasse geführt werden? Solche Fragen werden im Palais de Glace zwar nicht offensichtlich, aber implizit gestellt. Und somit hebt sich das Ausstellungsprojekt vom üblichen Tenor der staatlich unterstützten kulturellen Initiativen zum Bicentenario ab und bietet tatsächlich eine kritisch-selbstreflexive Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Situation. Das Miteinander von Vergangenheit und Gegenwart hat im Projekt “Menos tiempo que lugar” durchaus einen anregenden Nachklang.

  • „Menos tiempo que lugar. El Arte de la Independencia“. Anlässlich der 200-Jahr-Feiern der Unabhängigkeit Lateinamerikas hat das Goethe-Institut dieses Projekt in Zusammenarbeit mit dem deutschen Außenministerium entwickelt. Künstler: Narda Alvarado (Bolivien), Alexander Apóstol (Venezuela), Claudia Aravena Abughosh (Chile), Pablo Cardoso (Ecuador), Claudia Casarino (Paraguay), Neville D’Almeida (Brasilien), Julian d’Angiolillo (Argentinien), Leticia El Halli Obeid (Argentinien), Gianfranco Foschino (Chile), Christine de la Garenne (Deutschland), Laura Glusman (Argentinien), Fernando Gutiérrez (Peru), Juan Fernando Herrán (Kolumbien), Olaf Holzapfel (Deutschland), Agata Madejska (Polen/Deutschland), Bjørn Melhus (Norwegen/Deutschland), Joaquín Sánchez (Bolivien), Martín Sastre (Uruguay), Roland Stratmann (Deutschland), Frank Thiel (Deutschland), Mariana Vassileva (Bulgarien/Deutschland), Miguel Ventura (Mexiko). Kurator: Alfons Hug (Brasilien/Deutschland), Assistentin: Paz Guevara (Chile/Deutschland). Palais de Glace, Posadas 1725. Di-Fr 12-20, Sa und So 10-20 Uhr. 25.3.-25.4.
melhus.jpg
Bjørn Melhus, “Policía”, Videostill.
Foto oben: Martín Sastre, “Tango with Obama”, Videostill.

Escriba un comentario