Warum die Argentinier die Gesetze missachten

Die argentinische Anomie

Von Friedbert W. Böhm

anomie11.jpgJedem ausländischen Besucher fällt sie sofort auf, beinahe jeder Argentinier beklagt sich unentwegt über sie, beinahe jeder Argentinier trägt tagtäglich zu ihr bei: die allgemeine Missachtung der Gesetze.

Das eklatanteste Beispiel ist der Straßenverkehr. Geschwindigkeitsbegrenzungen, Einbahnstraßen, Fahrverbote, Rotlichter scheinen als unverbindliche Empfehlungen des Gesetzgebers aufgefasst zu werden. Beinahe die Hälfte der zugelassenen Fahrzeuge entbehrt der obligatorischen TÜV-Plakette, viele haben verbotene polarisierte Scheiben oder Anhänger-Kupplungen oder kaputte Scheinwerfer. Obwohl seit Jahrzehnten untersagt, bewegen sich auf den städtischen Straßen Hand- und Pferdewagen, dröhnen die Lautsprecher langsamfahrender Altlaster ihre Sperrmüllangebote, bemüht, den Lärm der helmlosen Raser auf Motorrädern mit aufgebohrtem Auspuff zu übertönen. Autos und Lastwagen parken, wo gerade Platz ist, auf der zweiten oder auch dritten Fahrbahn, auf Bürgersteigen. Und kaum jemanden scheint dies alles zu stören.

Missachtung von Verkehrs- und anderen Regeln gibt es auch anderswo. Aber in Argentinien scheint dies ohne Not, ohne schlechtes Gewissen, ja, sogar mit Vergnügen zu geschehen, sozusagen mit sportlichem Ehrgeiz. Was können die Gründe dafür sein? Besitzen die Argentinier etwa ein Anomiegen?

Das kann man ausschließen. Die Genausstattung der Argentinier kommt zum weit überwiegenden Teil aus Europa, wo man seit unzähligen Generationen Gesetzestreue eingebleut bekam. (Das mag heute etwas anders sein, aber der Satz gilt gewiss für die Zeit der großen europäischen Einwanderungswelle um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.) Nein, die Anomie hat mehrere andere Gründe, die allesamt nicht dem Genom, sondern der Tradition entstammen und eng mit der Geschichte des Landes verbunden sind.

Es begann mit Philipp II. von Spanien, dem ersten Bürokraten der Moderne. Der regierte seine “indischen” Kolonien vom grünen Tisch in Sevilla aus. Fleißig wie er war, schrieb er penibel vor, wie jede Siedlung dort auszusehen hatte (Schachbrettmuster etc.), was die Bürger zu tun und was sie zu lassen hatten (Kleidervorschriften inbegriffen), und er achtete darauf, dass es auf jedem auslaufenden Schiff einen Notar gab, der die Durchführung seiner Vorschriften bestätigte. Philipp war selbst nie in Amerika, und ob er sich von landeskundigen Beratern in seine hehren Vorstellungen hineinreden ließ, darf bezweifelt werden.

Jedenfalls waren die aus dem Mutterland eingeschifften Gesetze häufig so wirklichkeitsfremd, dass die Unmöglichkeit ihrer Befolgung von Vorneherein feststand. Unter den braven Kolonisten entstand also rasch das geflügelte Wort “Das Gesetz wird angenommen, aber nicht befolgt”. Es gilt heute noch.

Auch den spanischen Administratoren muss klar gewesen sein, dass es sinnlos war, auf der Befolgung unsinniger Regeln zu bestehen. Man musste ein Auge zudrücken. Oder beide, wobei ein kleiner Obulus gewiss hilfreich war. Das brauchte ja nicht gleich Korruption genannt zu werden, und man hatte deshalb auch beiderseits kein schlechtes Gewissen.

Wo es ohnehin eine Menge unerfüllbarer Gesetze gibt, deren Nichtbeachtung praktisch Bürgerrecht ist, ist der Weg nicht weit zur Nichtbeachtung auch derjenigen Vorschriften, die durchaus sinnvoll und sogar notwendig sind. Allenfalls muss beim Ertapptwerden dann halt der Obulus ein wenig größer sein. Wenn man ein kleiner Mann ist.

Hier ist vom nächsten Grund für die Anomie zu sprechen. In der Feudalgesellschaft nämlich, deren Wurmfortsatz die Kolonien waren, galten die Gesetze in aller Regel für den kleinen Mann. Aristokraten oder Funktionsträger hatten entweder eigene Spielregeln oder sie hielten sich qua Macht oder Status für befugt, die allgemeinen zu ignorieren. Im Umkehrschluss wurde der Gesetzesübertreter vom gemeinen Volk automatisch für etwas Besonderes gehalten, auch wenn er das gar nicht war. Nach der Unabhängigkeit Argentiniens änderte sich an solcher Anschauung nichts Wesentliches. Gesetzesmissachtung als Statussymbol – das dürfte im Lande heute noch ein unbewusstes Motiv sein.

Denn die im Zuge von Aufklärung und Demokratisierung in Nord- und Mitteleuropa mühsam durchgesetzte (weitgehende) Abschaffung von Standesprivilegien hat in Südeuropa spät und mangelhaft stattgefunden. Jedenfalls steckte in den aus Süditalien und Spanien eingewanderten Großeltern der Mehrzahl der heutigen Argentinier ein gerüttelt Maß feudaler Vorstellungen. Bitterarme Leute waren das, deren größter Wunsch – ein Sohn mit akademischem Titel – nicht zuletzt darin begründet war, endlich der zu größerer Gesetzestreue verpflichtenden Unterprivilegiertheit zu entrinnen, der man gleichermaßen in der neuen wie der alten Heimat ausgesetzt war.

Koloniale Gewohnheit, feudale Tradition, mangelnde Kontrollen und Sanktionen sowie schleichende Korruption sind Motive für Gesetzesmissachtung, die sich gegenseitig hochschaukeln und mit der Zeit jedes Unrechtsbewusstsein untergraben. Selbst gesetzestreu erzogene Neuankömmlinge werden in einer solchen Gesellschaft rasch ihre guten Sitten ablegen. Wer bemüht sich denn, ein guter Bürger zu sein, wenn er davon nur Nachteile und Spott erntet? Zuletzt regiert die Anomie in allen Bereichen und Ebenen der Gesellschaft, auch in ihren Institutionen.

Jetzt steht eine 200-Jahr-Feier an. Wen wundert es, dass deren Ausrichtung von Beginn an vergiftet wird von Anklagen der Gesetzesuntreue, mit denen Regierung, Zentralbank, Parlamentarier und Richter sich gegenseitig überhäufen?

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