Die Pirateninsel

(K)ein Märchen vom Südatlantik

Von Friedbert W. Böhm

Alles in allem war es ein friedlicher Ort gewesen. Die Insel lag im Südatlantik, beinahe schon an der Grenze zu den Subtropen. Ihren Bewohnern bot sie die besten vorstellbaren Lebensumstände: reiche Fischgründe ringsumher, keine Fressfeinde, keine Menschen, sichere Nistplätze an den Felsen, die gegen das Meer steil abfielen. Seit Generationen hatten Möwen, Tölpel und Regenpfeifer, Albatrosse und sonstige Fischjäger sich zusammengerauft. Natürlich hatte es immer wieder Streit um die besten Nistplätze und Nestunterlagen gegeben, innerhalb der einzelnen Gruppen und zwischen ihnen. Es waren häufig Federn geflogen und der eine oder andere Inselbewohner hatte dabei wohl auch ein Auge eingebüßt. Aber mit der Zeit hatte sich eben doch ein einigermaßen erträgliches Zusammenleben ergeben.

Da erschienen die Fregattsegler. Als Seevögel haben Fregattsegler ein Handicap. Sie besitzen kein wasserdichtes Federkleid, können deshalb weder schwimmen noch tauchen. Aber sie lieben Fischnahrung und lehnen es ab, sich etwa von Regenwürmern zu ernähren. Ihre Unfähigkeit zum Fischen überspielen sie indes mit einer ausgeprägten Fertigkeit zur Piraterie. Kein anderer Seevogel ist davor sicher, sich von ihnen seine Beute beim Heimflug abjagen zu lassen.

Das wussten die Inselbewohner zunächst nicht. Zwar hatten vorbeikommende Seeschwalben von einem anderen Ort – einer kleineren Insel – gemurmelt, wo die Fregattsegler eine autoritäre Herrschaft errichtet hätten, aber solche Gerüchte konnten die selbstbewussten Inselbewohner nicht verunsichern. Schließlich sitze man auf einer ziemlich großen Insel und wisse sich schon irgendwelcher Übergriffe zu erwehren. Außerdem waren es ja nur zwei Fregattsegler, ein Pärchen.

Man nahm sie also auf, nicht gerade mit Begeisterung, aber mit jener erwartungsvollen Neugier, die Neuankömmlingen entgegengebracht zu werden pflegt. In der Hackordnung der Insel wurde dem Fregattseglerich angesichts seiner eindrucksvollen Flügelspannweite und des martialischen Aussehens sogar eine Führungsposition zugestanden.

Anfangs schien das Pärchen sich recht gut ins Inselleben zu fügen. Dass die Fregattsegler einigen Tölpeln ihre Fische abnahmen, störte nicht viele; man war ja selbst kein Tölpel. Manche applaudierten sogar, denn die Effizienz der fleißigen und geschickten Tölpel war ihnen schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Andere wiederum fanden den Fregattseglerich sehr opportun, denn er gab ihnen einen Teil der geraubten Fische ab, so dass sie sich, statt zu arbeiten, in die Sonne setzen konnten. So gewann das neue Pärchen viele Freunde.

Dann aber wurde offenbar, dass die Fregattsegler nicht nur Tölpel beraubten, sondern immer mehr Fischergruppen. Sie hatten nun ja auch ihre Freunde bei der Stange zu halten. Übrigens begannen die Freunde, die besten Nistplätze zu besetzen. Missstimmung begann sich auszubreiten, zumal die Fresslust der Freunde den Fischreichtum zu mindern begann.

Missstimmungen zu beseitigen war nicht die starke Seite des Fregattseglerichs. Dazu hätte er zu den Mitbewohnern der Insel freundlich reden müssen. Er konnte aber nur aggressiv knarzen und schnarren. So trat er seine Führungsposition vordergründig an sein Weibchen ab. Dieses war eine begabte Gackerin und Schnatterin.

Tatsächlich aber fuhr das Männchen fort, seine Herrschaft auszuüben und auszuweiten. Des mühevollen eigenen Raubens müde, zwangen der Herrscher und seine Freunde die Fischer, einen guten Teil ihrer Fänge gleich in die Nester der Freunde zu tragen. Das Nächste wird sein, sagten sich die Fischer, dass wir auch noch deren Küken füttern müssen. Und rebellierten. Eine Zeitlang sah es so aus, als könnten sie die Piraten zurückdrängen, aber sie waren zu uneins, um ihre Macht zu bündeln. Auch gelang es den Fregattseglern immer wieder, einige Fischer auf ihre Seite zu ziehen, durch Beteiligung an der Beute oder durch Überredung.

Für die Überredung war die Fregattseglerin zuständig. Beinahe jeden Tag putzte sie ihr Federkleid auf neue Weise, flog auf den Gemeinschaftsfelsen und schnatterte auf das Publikum ein. Dabei nahm sie es mit der Wahrheit nicht so genau. Die häufigen Überfälle etwa bezeichnete sie als eine von missgünstigen Nachbarplapperern in die Welt gesetzte Illusion. Wenn das Wetter schlecht fürs Fischen war, führte sie dies auf die Umtriebe oppositioneller Schnatterer zurück oder auf das sündige Gebaren irgendwelcher externer Störenfriede. War das Wetter gut, beschrieb sie dies als Ergebnis ihrer weisen Herrschaft. Was ihr dabei an Sachargumenten fehlte, ersetzte sie durch Gefühlsbetonung. Und wenn ihr Fabuliertalent nicht ausreichte, Begründungen für ihre Aussagen zu erfinden, setzte sie ein verschwörerisches Lächeln auf und sagte: “Ihr wisst schon, was ich meine.” Das Publikum wusste überhaupt nichts, aber die weniger Gescheiten darunter dachten, dass sie einfach zu dumm seien, solche Dinge zu verstehen. Und die Gescheiteren waren es bald so müde, auf den Arm genommen zu werden, dass sie den Gemeinschaftsfelsen mieden.

Die durch das ständige Geplapper bewirkte Ablenkung der Inselgemeinde nutzte der Fregattseglerich mittlerweile zur Erweiterung seiner Macht. Mit Hilfe einer Gruppe skrupelloser Raubmöwen, die er sich zu Aposteln gemacht hatte, schränkte er die Freiheit der Gemeindemitglieder immer weiter ein. Jetzt sollten sie nur noch auf genehmigten Routen zum Fischen ausfliegen, solche Arten von Fischen herbeibringen, die dem Herrscher genehm waren und die Beute nach seinen Angaben verteilen. Die Raubmöwen erheischten immer neue Privilegien, und wenn diese nicht unverzüglich zugestanden wurden, belagerten sie die Flugrouten und hinderten die Fischer bei der Arbeit. Neue Nistplätze gab es nur noch für Freunde, die es auch einzurichten wussten, den traditionellen Besitzern ihre Plätze abzutrotzen. Dabei machten sie neuerdings nicht einmal vor den mächtigen Albatrossen Halt, welche nun zu begreifen begannen, dass sie dem Treiben der Fregattsegler schon entgegenwirken hätten sollen, als es den Tölpeln an den Kragen ging. Zuletzt versuchten die Fregattsegler, sogar das Schnattern zu regulieren. Es sollte nur noch ihren Freunden erlaubt sein.

Ob diese Geschichte eine Fortsetzung hat, hängt vom Erfolg jener Regulierungsversuche ab.

Foto oben:

Skrupellose Raubmöwen halfen dem Fregattseglerich bei der Erweiterung seiner Macht.

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