Kapazität ausgelastet

Was ist nur los mit den Neuronen?

Von Friedbert W. Böhm

Ich habe immer gelesen, die Anzahl unserer Neuronen sei so unermesslich groß, dass man die Hirnkapazität getrost als unbegrenzt bezeichnen könne. Dies umso mehr, als man unlängst feststellte, dass altersmäßig abgestorbene Neuronen entgegen früherer Annahmen in gewissem Ausmaß ersetzt werden.

Wenn das so ist, besitze ich ein ziemlich minderwertiges Hirn.

Das hat, glaube ich, nichts mit dem Alter zu tun, denn mein Erinnerungsvermögen funktioniert noch ganz ordentlich. Ich entsinne mich noch, mit etwa 3 Jahren von der Sirene in den Luftschutzkeller gejagt worden zu sein, und auch an meine erste Liebe im Kindergarten kann ich mich gut erinnern.

In der Folge verarbeiteten meine Neuronen ohne große Mühe das ABC, das kleine und große Einmaleins, allerlei Erdkunde und Geschichte, dann Schulenglisch mit schwäbischem Akzent, später Algebra, Geometrie, Physik, Chemie und sogar Hochdeutsch. Daneben mannigfaltige Eindrücke über Häuser, Ortschaften, Naturformen, Pflanzen, Tiere sowie viele, viele Namen von Nachbarn, Schul- und sonstigen Freunden, Lehrern, Sportlern, Schauspielern, Sängern, Büchern mit ihren Autoren und Akteuren. Dies alles übrigens nicht nur aus meiner eigenen damaligen Zeit, sondern, den Erzählungen der Eltern und Großeltern folgend, bis zurück zum Ende des XVIII. Jahrhunderts.

Berufliches musste dann Platz im Hirn finden: kaufmännisches Rechnen, ein wenig Betriebswirtschaft, ein wenig Handelsrecht, alles natürlich verbunden mit vielen neuen Namen von Kollegen, Kunden, Geschäftsfreunden. Dazu kamen die Herausforderungen neuer Technik. In meinen ersten 15 Jahren hatte ich kein Telefon in der Hand gehabt und war in keinem Auto gesessen. Diese Artefakte zu bedienen, wie auch elektrische Schüttelwagen- und Buchungsmaschinen (niemand erinnert sich heute mehr daran) fiel meinen Neuronen nicht schwer. Sie waren auch nicht besonders beeindruckt im Angesicht eines der ersten EDV-Zentren in der Großstadt – eine riesige Halle mannshoher grauer Kästen, die von Männern in Ingenieurskitteln bedient wurden, ungeheure Hitze verströmten und deren gesamte Kapazität wohl in einen halben Laptop gepasst hätte.

Keine größeren Probleme hatten meine Neuronen beim Übergang von der ländlichen Provinz in die Weltstadt mit neuen Geschäften, Gebräuchen, Namen, Bestimmungen. Und Maschinen und Methoden. Kaum hatte ich die mechanische Kurbel-Multiplikationsmaschine zu beherrschen gelernt, kam der erste elektrische Rechner. Sehr eilige internationale Kommunikation musste wie 50 Jahre zuvor per Telegramm erledigt werden. Der “Peddy-Code” (nicht zu verwechseln mit dem weitaus sympathischeren “Petty-Coat”) ermöglichte konveniente Abkürzungen für Hunderte von stereotypen Nachrichten. Das schafften meine Neuronen mit links, wie auch deren umständliche Verschlüsselung. Es war weiterhin noch reichlich Platz im Hirn für die Erlernung neuer Sportarten und den (allerdings nicht billigen) Wechsel vom Schafkopf zum Skat. Inzwischen hatten sich meine Gehirnwindungen auch ohne merklichen Stress bezüglich Heiztechnologie von Kohle über Öl und Strom auf Gas und, was die Fortbewegung anbetrifft, von Moped über Roller auf Auto mit Drei-, dann Vier-, dann Fünfganggetriebe, im Gegensatz zum Fahrschulgefährt jetzt vollsynchronisiert, umgestellt.

Im festen Glauben an die Unbegrenztheit meiner Hirnkapazität hatte ich überhaupt keine Bedenken, mein Umfeld erneut zu wechseln, diesmal in einen fremden Kontinent und eine neue Sprache. Das klappte sogar. Ohne die alten zu vernachlässigen, richteten die Neuronen eine Vielzahl neuer Hirnschubladen ein und begannen, sie zu füllen. Da gab es ja nicht nur wieder neue Namen, Gebräuche, Modalitäten usw.; geschäftlich waren die eben erschienenen Fernschreiber und Diktiergeräte zu verdauen und die Buchungsdaten wurden nicht mehr per Hand eingetragen, sondern in Lochkarten gestanzt. Privat musste ich mich sportlich umstellen und in meine Schubladen massenhaft neue geschichtliche, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Daten stopfen. Auch flog man inzwischen, statt mit dem Schiff zu fahren, was damals allerdings wesentlich weniger Neuronenarbeit erforderte als heute.

Bald gehörten elektrische Abrechnungsmaschinen und Lochkartendrucker der Vergangenheit an; es begann das Computerzeitalter. An Binäres mussten meine Neuronen sich gewöhnen. Das Binäre war aufgeteilt in Analyse, Programmierung und Operation – jede Sparte für sich eine Wissenschaft, die sie in die richtigen Schubladen stecken mussten, damit das Hirn nicht von den Spezialisten übers Ohr gehauen werden konnte. Kaum war dies geschehen, konnten diese Schubladen wieder geschlossen werden, denn es gab fertige Programme zu kaufen, deren Auswahl nur unter Anlage wieder neuer Fächer zu beurteilen war. So wendig waren meine Neuronen in solchen Dingen, dass ich als einer der Ersten Heimcomputer und Computerspiele ins Haus brachte und meinen Kindern erklärte.

Das Hirn schien längst noch nicht ausgelastett zu sein, obwohl in ihm nunmehr nicht nur die letzten Kriegs- und Nachkriegsereignisse gespeichert waren, sondern auch die Gründung der Bundesrepublik, die Währungsreform, die Berlin-Blockade, das Wettrüsten im Kalten Krieg, die Errichtung der Berliner Mauer, die Hamburger Hochwasserkatastrophe, die Kubakrise, Kennedys und Kings Ermordung, die 68er-Revolten, der Vietnamkrieg, die RAF, die Emanzipation der Frauen, die Habilitation der Homosexuellen, das Einknicken der Autorität im persönlichen und öffentlichen Bereich, die Wiedervereinigung, alles mit ihren Hauptakteuren aus Politik, Wirtschaft und Kultur, ferner nicht wenige Olympiaden und Fußball-WMs mit ihren Spielern und Gewinnern neben unzähligen neuen Büchern, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Liedern, Filmen und Witzen. Dazu kamen zwei hautnah erlebte Staatsstreiche, ein blutiger Krieg zwischen Regierung und Terroristen sowie ein weiterer gegen England und die NATO, unvorstellbar viele Namen von Politikern und Bürokraten mit den von diesen alle Nase lang neu geschaffenen Gesetzen, Dekreten und Verordnungen, deren Fußangeln zu entgehen neuronale Großanstrengung erforderte.

Als die Globalisierung begann, waren in meinem Hirn gewiss schon mehr Daten gespeichert als in den vereinten Hirnen aller Steinzeitmenschen. Es musste sich nun aber weiter öffnen für unerwartete Verschiebungen in allen gewohnten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kategorien. Neue Geschäfte, neue Großfirmen, Zusammenbrüche oder –schlüsse althergebrachter, neue Denkweisen, Wege und Geschwindigkeiten. Die in den Schubladen meines Hirns gespeicherten Gesichter, Bilder und Laute verloren zusehends an Wert, denn die entsprechenden Personen und Arbeitsstätten waren entweder nicht mehr da, nicht mehr erreichbar oder wechselten ständig. Sie mussten ersetzt werden durch Ziffern, Zahlen und Codewörter, deren richtiger Gebrauch die Erlernung der Internet-Navigation, die Beherrschung von “Word” und “Excel”, das Eindringen in SAP sowie Verständnis der neuen Sprache voraussetzte, welche die Erfinder all dieser Systeme gleich miterfunden hatten. Ein guter Teil meiner Hirnkapazität ist nun damit beschäftigt, all die Schlüssel und Codewörter zu verwalten, die allein mir Zugang zu lebenswichtigen Leistungen verschaffen. Sie dürfen nicht aufgeschrieben werden und sind in immer kürzeren Abständen zu erneuern.

Gleichzeitig müssen meine Neuronen jedoch häufig ganz alte Daten aus beinahe vergessenen Schubladen hervorkramen und aktualisieren, jene der Geschichte, Natur- und Sozialwissenschaften. Wie soll ich mir sonst eine Meinung bilden über brennende Zeitthemen wie Klimaänderung, Übervölkerung, Energieverschleiß, Verlagerung der Wirtschaftsgewichte, Politikverdruss, steigende Armut und Kriminalität, Rückwendung zu Nationalismus, Populismus und Xenophobie, selbst in als aufgeklärt geltenden Weltgegenden? Eine solche eigene Meinung scheint mir wichtiger denn je angesichts des bedauerlichen Mangels an Wahrheitsgehalt in der Mehrzahl öffentlicher Aussagen.

Jetzt stelle ich allerdings fest, dass mein Hirn nicht zu jenen beneidenswerten gehört, die Platz für Alles haben. Ob die Neuronen müde oder die Schubladen voll sind, ich weiß es nicht. Jedenfalls getraue ich mich nicht, es mit neuen Daten zu belasten, die nicht wirklich überlebensnotwendig sind. Ich bitte also, mich in Ruhe zu lassen mit immer neuen, alleskönnenden Mobiltelefonen, mit Facebook, Youtube und Twitter, mit Autos, die nur über den Computer zu steuern sind, und substanzlosen oder repetitiven Mailrundschreiben.

Für einen gut erzählten Witz hat mein Hirn aber immer noch ein Plätzchen.

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