Eine sehr persönliche Reise

Click aquí para leer la versión en castellano.

Alan Pauls über seinen Aufenthalt in Berlin im Rahmen des “Rayuela”-Projekts

Von Jürgen Ramspeck

Himmel oder Hölle? Im Rahmen des Projekts “Rayuela” lebten fünf deutschsprachige Autoren im Herbst 2010 für knapp vier Wochen in Argentinien, während fünf Argentinier nach Deutschland kamen. In den Tagebüchern der Schriftsteller steht teils Banales, wie erste Erfahrungen in Supermärkten, aber auch Gedanken zu Gesellschaft und Leidenschaften. Die wohl persönlichste Reise unternahm der Argentinier Alan Pauls. Er besuchte im September und Oktober Berlin – die Stadt, die sein Vater im Alter von sechs Jahren im Jahre 1939 Richtung Argentinien verließ. Während eines Spaziergangs über den St. Matthäus-Friedhof, ein bürgerlicher Friedhof des 19. Jahrhunderts, schreibt er in sein Tagebuch: “(…) es [ist] das erste Mal, dass es mich ernsthaft, körperlich reut, meinen Vater eingeäschert zu haben: nicht die Möglichkeit zu haben, ein eigenes Ritual zu erfinden, ein Zwiegespräch mit dem, was von ihm geblieben wäre.” In einem Interview spricht der 51-Jährige über diese Zeitreise in die eigene Vergangenheit.

JR: Alan Pauls, was haben Sie als erstes gefühlt, als Sie in Berlin angekommen sind?

Pauls: Eine große Vertrautheit. Ich kannte Berlin kaum, ich war vor einem Jahr nur zwei Tage dort gewesen. Schon da hat mich die Stadt sehr beeindruckt, deswegen hatte ich mich entschlossen für längere Zeit zurückzukommen. Ich fand eine Stadt vor, die mir einerseits total unbekannt war. Aber andererseits fühlte ich ein gewisses Wohlbefinden, mich komplett frei bewegen zu können. Das war seltsam für eine mir eigentlich unbekannte Stadt. Sonst fühlt man als Reisender immer einen gewissen Druck, aber in Berlin war das nicht so. Ich war meistens mit dem Fahrrad unterwegs. Es war, als hätte ein Teil dieser Stadt schon immer in mir gelebt, noch bevor ich das erste Mal die Füße auf Berliner Boden gesetzt habe.

JR: Welche Bedeutung hat dieser Besuch für Sie?

Pauls: Berlin war so etwas wie meine letzte Schuld. Eine Schuld, die ich erst sehr spät zurückbezahlt habe. Ich musste einen sehr hohen Preis dafür bezahlen. Dieser Preis war der Tod meines Vaters. Er war gerade eine Woche zuvor in Buenos Aires gestorben, als ich nach Berlin kam.

JR: Haben Sie von Ihrem Vater Charakterzüge geerbt, die Sie eher als „typisch deutsch“ bezeichnen würden und die Sie auf dieser Reise entdeckt haben?

Pauls: Naja, ich war schon immer ziemlich ordentlich, sehr rational. Ich habe schon immer das Denken als Logik, als System, als Prozess gewissermaßen, gesehen. Das ist eine Sichtweise, die man als typisch Deutsch bezeichnen könnte. Ich könnte jetzt nicht genau sagen, ob das eine Eigenschaft meines Vaters war, aber es existiert eine gewisse Affinität zwischen einem geordneten System und meiner Persönlichkeit.

JR: Ihr Vater hat nie die argentinische Staatsbürgerschaft angenommen. Wenn man wie Sie aus einer grenzüberschreitenden Familie kommt, welche Bedeutung hat dann noch die Nationalität?

Pauls: Die Nationalität hat schon eine gewisse Bedeutung. Das Großartige an zwei Nationalitäten ist, dass die eine die andere relativiert. Das heißt, dass man sich niemals als Nichts fühlt. Ich glaube, das ist sehr wichtig und sehr positiv, denn jede tiefe, homogene und stolze nationale Identität bedeutet immer eine gewisse Gefahr, jedenfalls ist das bei mir als Argentinier so. Jedes Mal, wenn mein Heimatland Argentinien seine Identität mit Stolz erfüllt hat, war das meistens während einer Militärdiktatur. Und für mich war das stets ein Synonym für einen, sagen wir mal, Faschismus oder besser gesagt eine repressive Gesellschaft. Zwei Nationalitäten oder zwei Herkünfte, oder wie man das auch immer nennen mag, neutralisieren eine gewisse Tendenz, die jede nationale Identität inne hat: nämlich sich einer anderen Identität aufzuzwingen. Und so bleibt man immer irgendwie in der Schwebe, zwischen den Territorien. Auf diese Art, glaube wie, lebt man freier.

  • Alan Pauls, Jahrgang 1959, ausgezeichnet mit dem Premio Herralde für den Roman “El pasado”, der 2007 verfilmt wurde. Er erschien auf Deutsch unter dem Titel “Die Vergangenheit”, neben dem Roman “Geschichte der Tränen”.

Foto oben:

Alan Pauls.
(Foto: Jürgen Ramspeck)

Escriba un comentario