“Das Recht auf Privatsphäre ist ein Menschenrecht”
Julia Solomonoff im Gespräch über ihren letzten Film, gesellschaftliche Veränderung, die Krise und neue Pläne
Von Valerie Thurner
Die argentinische Filmemacherin Julia Solomonoff war Jury-Mitglied des Internationalen Spielfilm-Wettbewerbs am 6. Zurich Film Festival (24. September bis 3. Oktober 2010), hat an der Columbia University mit einem MFA in Filmproduktion abgeschlossen, ist Autorin und Regisseurin von Spielfilmen wie “Hermanas” (2004) und “El último verano de la Boyita” (2009), lebt und arbeitet zur Zeit in New York.
VT: Herzlich willkommen in Zürich. Sie sind ja bereits zum 2. Mal hier in der Limmatstadt zu Gast.
JS: Das dritte Mal. Ich kam 2006 zum ersten Mal hierher mit meinem ersten Spielfilm “Hermanas”, der im Wettbewerb des 2. Zurich Film Festival lief. Im Jahr 2007 produzierte ich den Dokumentarfilm “Cocalero” über den bolivianischen Präsidenten Evo Morales, der es aber nicht in den Wettbewerb schaffte. Und 2009 brachte ich meinen letzten Film “El último verano de la Boyita” in den Spielfilm-Wettbewerb. Dieses Jahr bin ich schließlich zum dritten Mal zu Gast und zum ersten Mal in der Jury, versteht sich.
VT: Was gefällt Ihnen an dieser Aufgabe, in einer Festivaljury zu sitzen?
JS: Als Filmemacherin habe ich viel darüber gelernt, wie Filme rezipiert werden. Wenn Du Regie führst, bist Du empfänglich für sämtliche Kritik, alles, was Du darüber hörst oder siehst, betrifft Dich. Deshalb ist es schön, an einem Ort zu sein, wo Leute respektvoll Filme anschauen, und diese Jury ist äußerst respektvoll. Klar, unsere Standpunkte waren teilweise verschieden, aber wir konnten unsere Meinungen äußern, unsere Differenzen und Bedenken besprechen. Und wir hatten einen großartigen Austausch.
VT: Sie unterrichten an der Columbia Universität in New York City, wo Sie mit einem MFA in Filmproduktion abgeschlossen hatten. Wie kam es zu dieser Wahlheimat?
JS: Ich habe mich noch nie endgültig für etwas in meinem Leben entschieden. Ich will damit aber auch nicht sagen, dass ich in den Tag hineinlebe. Aber zunächst studierte ich in New York, und außerdem leben meine zwei Schwestern dort. So war es naheliegend, dorthin zu ziehen, wo ich schließlich auch meinen Mann und Vater meiner zwei Kindern kennenlernte. Beruflich musste ich wieder zurück nach Argentinien, und er kam mit mir, um die nächsten acht Jahre in Buenos Aires zu leben. Alle meine letzten Filme als Produzentin habe oder Regisseurin entstanden in Argentinien. Wir kehrten erst 2009 zurück nach New York.
Im vergangenen Jahr haben sie mir diesen Lehrauftrag an der Columbia angeboten, und da mein Mann US-Amerikaner ist, dachten wir, es sei eine tolle Chance, in New York zu leben, auch für meine Kinder, um Englisch zu lernen. Wir betrachteten es als Einjahresexperiment, ja, und das Experiment kommt soweit gut voran. (Lacht)
Letztes Jahr musste ich sehr viel auf Festivals reisen wegen meines Films “La Boyita”, ebenso zu den Premieren. Und von New York aus ist das einfacher als von Buenos Aires aus. Nächste Woche geht’s nach Taiwan. Ich möchte präsent sein und mich um die Presse kümmern. Da es sich bei “La Boyita…” um einen kleinen Film handelt, braucht er Aufmerksamkeit, Du kannst nicht einfach erwarten, dass die Leute ihn im Kino anschauen gehen.
VT: Ein sehr schöner Film, womöglich, weil er keine großen Namen hat. Lass uns über den Begriff “Independent Film” reden. Sie ziehen es vor, in kleinen Teams zu drehen. Ist das ein Weg, um sich in der Filmbranche eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren?
JS: Unabhängigkeit ist ein sehr wichtiger Begriff. Ich denke, jede Geschichte hat ihre passende Größe. Es ist schön, zu entdecken, wie wichtig die Größe für jeden einzelnen Film ist. Wenn Du jahrelang in diesem Geschäft arbeitest, lernst Du, dass ein Film sowohl in zu kleinen Schuhen wie auch in zu großen leiden kann. Wenn Deine Geschichte bestimmte produktionstechnische Mittel benötigt, und Du kannst sie nicht kriegen, erleidet Dein Film Schaden. Und beinahe niemand weiß es, aber ich bin davon überzeugt: Wenn eine Geschichte einen intimen, kleinen Rahmen braucht, und Du beginnst die Produktion aufzublasen, wirst Du verlieren. “La Boyita…” ist ein Film über Kindheit und Intimität und erforderte eine sehr kleine Crew am Set, um das Kind nicht zu überfahren, das zuvor noch nie in seinem Leben überhaupt in einem Kino gewesen war. Diese Kinder hatten ihr Dorf noch nie verlassen, also wollte ich keine Armee von Leuten, die in ihre Häuser eindringen, Make-up anbringen und so weiter. Ich wollte ihnen die Illusion lassen – natürlich weiß ich, dass es eine Illusion ist -, als wären wir gar nicht dort.
VT: Wie war das im Fall von “Hermanas”?
JS: Ja, bei “Hermanas” trat der Fall ein, dass die Produktion etwas größer ausgefallen war, als es nötig gewesen wäre, was mich folglich stark unter Druck setzte und mir Kompromisse abverlangte. Jetzt gerade mache ich meinen ersten Film in einem Auftragsverhältnis, führe Regie in einer größeren Produktion. Es handelt sich um einen Politthriller, und diese Geschichte erfordert nun mehr Budget, mehr Raum. Und ich möchte herausfinden, wie sich dies anfühlt.
VT: Wird er wieder in Argentinien spielen?
JS: Ja, in Buenos Aires.
VT: Sie haben mal über die am Machismo leidenden argentinischen Männer gesprochen, über die Emanzipation der Argentinierinnen, dass Sie dieser Stoff interessiert. Möchten Sie nach wie vor über dieses Thema einen Film realisieren?
JS: Lustig, dass Sie das erwähnen, ich weiß noch genau, wo ich das etwa vor einem Jahr in welcher Situation gesagt habe… Ja, ich habe eine Idee, aber das Projekt, das ich nun angehen werde, ist eine Romanverfilmung und hat nichts mit diesem Thema zu tun. Es geht um die Transformation der Städte. Über die Gier der Immobilien-Spekulanten, die Manipulationen, die Geschäfte, die darin münden, dass wir dann all diese riesigen Türme und keinen Wohnraum mehr haben, womit auch viel vom Charakter eines Ortes verlorengeht. Dieser Film braucht mehr Budget, da die Großstadt Buenos Aires wie ein Charakter im Film fungiert.
Was die Macho-Gesellschaft betrifft, erlebe ich dies aktuell nicht in Argentinien, sondern in New York. Es ist interessant zu beobachten, wie in einer Krise Frauen dazu neigen, sich besser damit zu arrangieren, während Männer mehr unter dem großen Knall zu leiden scheinen. Ich habe das 2001 in Argentinien erlebt. Und ich habe es 2009 in New York erfahren. Frauen repräsentieren eine Art Stabilität und Sicherheit, was Du in der heutigen Welt von keinem Mann mehr erwarten kannst, aber nach wie vor erwarten es viele Frauen von ihren Männern. Darüber wurde viel geforscht und geschrieben. In den Staaten nennen sie die aktuelle Wirtschaftskrise nicht “recession” (Rezession), sondern “man-cession”, weil diejenigen, die gefeuert wurden, vorwiegend Männer waren, was gesellschaftliche Auswirkungen nach sich zieht.
VT: Nun, in Argentinien habe ich eine Art permanente Krise wahrgenommen, die Leute waren ständig auf den nächsten Höhepunkt der Krise vorbereitet.
JS: Nein, sie sind eben nie vorbereitet! (Lacht) Sie meinen zwar, sie wären es, aber in Wirklichkeit sind sie es nie, und das ist die eigentliche Tragik, zu glauben, Du könntest sie meistern, und dann zu realisieren, dass Du es eben nicht kannst. Eine Krise kann man nicht meistern, aber sie kann Dir Wege zeigen und öffnen.
VT: Lassen Sie uns an dieser Stelle über Argentiniens jüngste Geschichte sprechen. Die Militärdiktatur scheint nach wie vor, oder gerade wieder ein großes Thema für argentinische Filmemacher zu sein. Beispiele dafür sind “El secreto de sus ojos” oder “Andrés no quiere dormir la siesta”. Der Film “Hermanas” behandelt das Thema der Verschwundenen. Wie denken Sie darüber, hat dieses dunkle Kapitel der Geschichte nach wie vor einen Einfluss auf das heutige Argentinien?
JS: Ich denke schon. Erst nach einer Weile manifestiert sich diese Zeit in ihrer Komplexität. Es ist nicht einfach Schwarz/Weiß, unterschiedliche Geschichten kommen an die Oberfläche. Es ist gesellschaftlich gesund, dass soviel Output über diesen Teil unserer Geschichte generiert wird, als Katharsis für diejenigen, die ihn erlebt haben. Ich denke, die gesamte Gesellschaft hat diese Diktatur erlebt, auch wenn einige nichts davon wussten oder vorgeben, nichts gewusst zu haben. Wenn ich sage, erlebt haben, dann meine ich damit nicht, dass sie ins Gefängnis mussten oder jemanden kannten, der verschleppt, gefoltert oder sogar getötet wurde. Ich meine damit, dass jede und jeder über 40 oder sogar 30 die Diktatur erlebt hat, sowie die Konsequenzen daraus. Ich finde es wichtig, dass alle erfahren, was geschehen ist, auch als Zeugnis für die folgenden Generationen.
Genauso wichtig wie die Aufarbeitung ist auch, als Gesellschaft die Idee der Bürgerrechte weiterzubringen zu anderen (aktuelleren) Schauplätzen. Das geschah beispielsweise dieses Jahr mit dem Gleichstellungsgesetz für homosexuelle Ehen, als Zeichen, dass das Ideal der Menschenrechte weiterhin verfolgt wird, nicht nur in einem politischen Kontext, sondern auch auf konstitutioneller Ebene. Vor vierzig Jahren noch lebten lesbische oder schwule Aktivisten gefährlich, und heute können sie heiraten. Und das ist ebenso bedeutend wie ein Film über die letzte Diktatur. Weil es ebenso die unglaubliche soziale Ungerechtigkeit in meinem Land anspricht.
VT: Ist das eventuell der Grund, weshalb Sie einen Film über einen hermaphroditischen Jungen machten, um Fragen zu Geschlecht und Identität aufzuwerfen?
JS: Ich benutze nie das Wort Hermaphrodit. Es ist ein unsensibles Wort und außerdem nicht präzise. Der Film fragt danach, was ein Junge und was ein Mädchen ist. Nach den Unterschieden, die sich ja immer mehr schmälern. Aber viel wird nach wie vor von dieser Differenz bestimmt. “El último verano de la Boyita” ist ein Film über Identität und thematisiert, wie wir mit körperlichen Veränderungen umgehen. Der Grund, weshalb ich die Geschichte aus der Perspektive von Jorgelina erzähle und nicht aus der Sicht des Jungen Mario, ist, weil ich erzählen möchte, wie wir der Unterschiedlichkeit begegnen. Lehnen wir sie ab, fürchten wir uns vor ihr, fühlen wir uns durch sie bedroht? Oder, wie im gegenteiligen Falle der kleinen Jorgelina, begegnen wir ihr neugierig, offen, mitfühlend, und sind wir fähig, die Unterschiedlichkeit anzunehmen und jemand Andersartigen an der Hand zu nehmen, und zwar nicht aus Mitleid. Was ich an Jorgelina so mag, sie tut es aus einem Gefühl der Verbundenheit heraus.
VT: Mitleid kann ja auch eine Art Diskriminierung sein.
JS: Ja. Einige Leute sagten, es wäre ein Film über Toleranz, aber ich mag das Wort nicht. Im Spanischen ist das eher negativ konnotiert. Du tolerierst (erträgst) etwas, das Du nicht magst… Ich möchte den Unterschied nicht tolerieren, ich möchte ihn aufrechterhalten. Das führt uns zu etwas Besserem, wir sollten nicht weiter zwei Stereotypen folgen.
Einer der Werte in “El último verano de la Boyita” ist das Recht auf Privatsphäre, ein Wert, der zunehmend in Vergessenheit geraten ist. Das ist ein Grundrecht, ein äußerst wichtiges, und die Jugendlichen heute sind verstört, da ihnen dieses Grundrecht nicht einmal mehr vermittelt wird.
Gestern kamen mir die Tränen, als ich in der Zeitung über einen Vorfall in Jersey erfahren habe. Ein 18-jähriger Student der Rutgers Universität ist von der Brücke gesprungen. Und weshalb? Weil zwei Tage zuvor sein Zimmerkollege ihn beim Sex mit einem andern jungen Mann mit der Webcam gefilmt hatte. Der Student war Musiker und hatte sich nie als homosexuell geoutet, und dieser Zimmerkollege verbreitete die Aufnahmen im ganzen Intranet der Uni, so dass ihn alle beim Sex sehen konnten. Selbstverständlich wusste der Junge nicht, dass er gefilmt wurde. Als er aber herausfand, dass er von all diesen Leuten gesehen worden war, sprang er von der Brücke! Das wird nun als Verbrechen behandelt. Es handelt sich um Diskriminierung der schlimmsten Art. Der Typ dachte wahrscheinlich, er wäre originell, aber im Grunde genommen beging er eine fürchterliche Verletzung der Privatsphäre! Nur schon zu glauben, Du hättest das Recht, etwas zu tun, nur weil es technologisch möglich ist, und nicht zu verstehen, dass Du kein Recht dazu hast!
VT: Möchten Sie diesen Stoff eines Tages verarbeiten, diesen Verlust von Privatsphäre und Intimität durch all unsere Netzwerk- und Kommunikationstechnologie?
JS: Mein Film handelt auf dem Land vor 20 Jahren. Und das ist wichtig, im letzten Satz des Films sagt das Mädchen: “Das ist Privatsache.” Mich reizt es nicht so sehr, einen urbanen Film über all die moderne Technologie zu machen. Wir können auch so über Privatsphäre reden. Und ich denke, es ist ein sehr wichtiges Thema.
VT: Die Schweizer Filmbranche kränkelt in der Stoffentwicklung. Nun meine Frage an Sie: Wie finden Sie gute Geschichten, und wie entstehen gute Drehbücher?
JS: Für mich ist eine Geschichte zunächst eine Figur. Mich interessiert diese Figur, und die Frage, ob diese glaubwürdig ist. Manche Leute haben eine eher oberflächliche Herangehensweise, konzentrieren sich auf plot turns. Dann erkennst Du all diese Nähte der Geschichte, die folglich nicht organisch ist. Das Wichtigste ist, die Figur zu finden und sie dann in diese prüfende Laborsituation zu setzen. Das ist eines der Dinge, die ich an der Schule gelernt hatte. Einst war ich zu sanft zu meinen Figuren, bis ich lernte, dass die Hindernisse die Figuren ausmachen. Wenn ich einmal die Richtung entschieden habe, in die ich will, muss ich mir überlegen, was das größte Hindernis für diese Figur wäre … und hier beginnt das Problem. Viele Drehbuchautoren sind bequem.
VT: Meinen Sie faul? Mangel an Inspiration, Geld oder Zeit, um ein gutes Drehbuch zu entwickeln?
JS: Faulheit ist, sich nicht die Mühe zu machen, das Problem auszuschöpfen, sondern gleich mit der Lösung zu kommen. Faulheit ist beispielsweise, wenn Du ein Problem hast, und Du dann einfach eine Pistole nimmst und jemanden erschießt. Das ist reine Faulheit.
VT: Oder ein Autounfall…
JS: Ja… Wenn du Gott spielst und Dinge geschehen lässt, weil sie Dir als Drehbuchautorin gerade gelegen kommen. Es kann sich dabei um ein kleines Detail im Plot handeln, aber als Zuschauer fragst Du Dich dann, wie konnte diese Figur so handeln? Als Drehbuchautor musst Du der Figur den Raum geben, nach ihrem Weg zu suchen.
VT: Eine kleine Frage abschließend zur argentinischen Filmförderung, die primär vom INCAA abhängt. Ist dieses Monopol gefährdet durch den Trend der Privatisierung in der Kulturförderung?
JS: Uff, das ist eine komplexe Frage! Ich denke, das nationale Filminstitut ist essenziell. Private Gelder sind auch wichtig. Aber die Argentinier folgen dem französischen Modell, Film ist Kultur und nicht primär ein Geschäft. Investment ist zwar wichtig, aber kann nicht bestimmen, was gedreht wird. Im Kino geht es um Identität und geteilte Werte, die nicht unbedingt absatzfähig sind, die aber die kulturelle Identität eines Landes prägen. Und in Ländern wie Chile, Argentinien oder Mexiko kann Film ein wichtiges Mittel für die Konstruktion von Identität und damit verbundene Debatten sein, deshalb finde ich, es darf keinesfalls von privaten Investitionen abhängen. Wir brauchen die staatliche Förderung, die uns vermittelt, dass wir es hier mit einer der mächtigsten Kunstformen zu tun haben. Die kann uns ein Gefühl der Gemeinschaft vermitteln – der “pertenencia” (Zugehörigkeit). Ich denke, es ist die Aufgabe jedes Staates, ein Image zu vermitteln, eine Diversität von Images natürlich, die dann in die Welt hinausgetragen und gespiegelt werden. Filmförderung darf auf keinen Fall privatisiert werden.
Foto:
Julia Solomonoff.