Neue Attraktion für Argentinien

Symbolische Einweihung der spektakulären Wandmalerei “Ejercicio plástico” von Siqueiros

Von Susanne Franz

Eines der beeindruckendsten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts, die Raum/Wandmalerei “Ejercicio plástico”, die der mexikanische Künstler David Alfaro Siqueiros im Jahre 1933 in Argentinien schuf und um die ein jahrzehntelanger Streit tobte, ist am Freitag vergangener Woche von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und ihrem mexikanischen Amtskollegen Felipe Calderón eingeweiht worden. Es war eine symbolische Eröffnung, denn das restaurierte Kunstwerk wird dem Publikum erst im April zugänglich sein, wenn mit ihm der unterirdische Raum “Aduana Taylor” unter der Casa Rosada und der Plaza Colón als “Museo del Bicentenario” seine Pforten öffnet.

Der mexikanische Künstler und kommunistische Agitator Siqueiros hielt sich im Jahr 1933 einige Monate in Argentinien auf, wo er die intellektuellen Kreise mit seiner harschen Gesellschaftskritik gehörig aufmischte und schließlich polizeilich gesucht wurde, weil er mit “subversiven” Kunstaktionen und flammenden Revolutionsaufrufen “die öffentliche Ordnung” störte. Der mächtige Zeitungsmagnat Natalio Botana (“Crítica”) gab Siqueiros nicht nur Raum in seiner Zeitung und deren Beilagen, sondern bot ihm, als das Pflaster in Buenos Aires zu heiß für ihn wurde, an, in seinem weit außerhalb gelegenen Landhaus Los Granados in Don Torcuato einen Auftrag auszuführen und einen Kellerraum auszumalen.

Der Mexikaner, der sich sowohl in seiner Heimat als auch in den USA mit Wandmalereien von brisantestem politischen Inhalt einen Namen gemacht hatte (bis er ausgewiesen wurde), ging dieses Werk in dem 130 Meter langen Kellergewölbe auf außergewöhnliche Art an: Mit Hilfe der Künstler Antonio Berni, Lino Enea Spilimbergo und Juan Carlos Castagnino malte er innerhalb von drei Monaten den gesamten Raum, jeden Winkel und sogar den Boden aus, wobei das Motiv nackte weibliche Körper waren. In dem dunklen Gewölbe schufen er und seine Helfer die Illusion, dass man sich in einem gläsernen Raum befindet, in den die erotischen Gestalten, die auf eine Art “verzerrt” dargestellt sind, dass sie vom an ihnen vorüber gehenden Betrachter dreidimensional und in Bewegung wahrgenommen werden, hineinzukommen versuchen. Man befindet sich wie in einer durchsichtigen Blase inmitten des Meeres, auf die die Figuren mit ihren wallenden Haaren und riesigen Augen zuschwimmen, auf die sie Hände und Füße pressen, um hineinzukommen.

Siqueiros schuf mit “Ejercicio plástico” ein unvergleichliches Meisterwerk ohne jegliche politische Aussage, in einem Keller eines isoliert gelegenen Landhauses eines umstrittenen Pressezars, der ihm auch noch die Frau ausspannte (die schöne Uruguayerin Blanca Luz Brum). All diese ungewöhnlichen Umstände, zusammen mit seinem aufbrausenden Charakter, der für seine Mitmenschen oft unerträglich war, mögen eine Erklärung dafür sein, dass das Kunstwerk jahrzehntelang vergessen wurde (Berni, Spilimbergo und Castagnino sprachen nie über ihre Erfahrungen in dem Keller). Und dass es bei Abriss der Quinta Natalio Botanas einfach in Stücke gehackt und in Containern verstaut in schon bedauernswertem Zustand weiter verrottete, während ein Rechtsstreit um es entbrannte, der immer noch nicht zu Ende ist.

Im vergangenen Jahr beschloss die argentinische Regierung ein Verbot, das Kunstwerk außer Landes zu schaffen, und verpflichtete sich, für die Erklärung, dass es sich um ein Stück unveräußerlichen argentinischen Kulturgutes handelt, 12 Millionen Pesos zu zahlen. Das ist den Besitzern angeblich nicht genug, sie wollen weiter um die Vermarktungsrechte für das unschätzbar wertvolle Kunstwerk streiten, reden von Formfehlern in vergangenen Verhandlungen und drohen mit weiteren Prozessen, mit denen sie im schlimmsten Fall die Pläne für das Zugänglichmachen des Werkes noch in Frage stellen könnten.

Warum das Werk so lange in Vergessenheit geriet und so wenig Bilder an die Öffentlichkeit gelangten – Annemarie Heinrich fotografierte u.a. im Jahr 1933 das Kunstwerk – mag auch daran liegen, dass Siqueiros selbst es mit der Bezeichnung “Ejercicio plástico” (künstlerische Übung) abwertete, denn er konnte es nicht mit seinem kommunistischen Gewissen vereinbaren, ein Werk geschaffen zu haben, das nicht der Revolution diente, sondern einfach aus reiner Freude am Schaffen entstanden war. Seine kommunistischen Mitstreiter griffen ihn wegen des Werkes aufs Schärfste an oder belächelten ihn wie etwa sein berühmter Landsmann Diego Rivera.

Warum Siqueiros selbst, der doch die Öffentlichkeit und massenhafte Verbreitung seiner Werke anstrebte, in einem Keller in einer gottverlassenen Gegend ein Werk solcher Größe und Bedeutung schuf, erklärt Ana Martínez Quijano in ihrem soeben (bei Ediciones Larivière) erschienenen Buch “Siqueiros: Muralismo, Cine y Revolución” (aus dem die meisten hier wiedergegebenen Informationen stammen) folgendermaßen: Siqueiros, als Künstler ein Visionär, der unter anderem das “Dripping” erfunden und 1932 vor Schülern in den USA praktiziert hat, mit dem Jackson Pollock später berühmt wurde, wollte, dass “Ejercicio plástico” von einem Filmkünstler gefilmt würde und im Kino dem breiten Publikum zugänglich gemacht werden sollte. Er verfügte dies ausdrücklich in seinen Schriften, denen jedoch niemand Beachtung schenkte, als man das Kunstwerk in Stücke schlug, um es auf Welttournee zu schicken.

Vor diesem barbarischen Akt wurde das Werk zumindest zwar nicht von großen Künstlern, aber einem Dokumentarfilmer-Team aufgezeichnet, was eine unerlässliche Grundlage für seine Restauration darstellte.

Das Buch

Das im Verlag Ediciones Larivière erschienene Buch “Siqueiros: Muralismo, Cine y Revolución” der Kunstexpertin Ana Martínez Quijano ist ideale Lektüre, um sich auf die Eröffnung der Ausstellung des Siqueiros-Werkes vorzubereiten. Von einem kunstkritischen Standort aus schreibt Martínez Quijano spannend und kurzweilig über die Umstände des Entstehens des Meisterwerkes “Ejercicio plástico” und liefert ein lebendiges Bild der Zeit und der Akteure in dem menschlichen und politischen Drama um den Ausnahmekünstler und Visionär Siqueiros.

Der handliche, schön bebilderte 357-Seiten-Band liest sich locker wie ein Krimi in wenigen Tagen – ein perfektes Weihnachtsgeschenk für alle Kulturbegeisterten.

Ana Martínez Quijano ist Journalistin, Kunstkritikerin, Uni-Dozentin und Herausgeberin von “Ámbito de las Artes”. Sie schreibt seit mehr als 20 Jahren für “Ámbito Financiero” und hat zahlreiche Artikel und Essays in anderen bedeutenden Zeitungen und Kunstzeitschriften veröffentlicht sowie Kunstsendungen im Fernsehen produziert. Als unabhängige Kuratorin bereichert sie seit Jahren mit Ausstellungen wie “Borges y el arte”, “Porque yo soy otro” (über Sandro Pereira) oder “Abre tus ojos” (Videos) die Kunstlandschaft Argentiniens.


Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und ihr mexikanischer Amtskollege Felipe Calderón bewundern das Meisterwerk.
(Foto: Presidencia)

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