Über das Reden

Ist Schweigen tatsächlich Gold?

Von Friedbert W. Böhm

Ich rede nicht von Sprache. Sprache ist reden, schreiben und Geschriebenes verstehen. Reden ist die erste Stufe von Sprache. Nie konnte ich mich auf dieser Stufe wohlfühlen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sagen “wie kann ich wissen, was ich denke, bevor ich gehört habe, was ich sage?”. Als in Süddeutschland Aufgewachsener habe ich mich eine Zeitlang an den Spruch geklammert: “Die Norddeutschen sind wie eine Taschenuhr – tic, tic, tic, tic. Und die Süddeutschen – tac – wie eine – tac – Turmuhr – tac. Aber beide zeigen zur gleichen Zeit die Zwölfe an.” Das ist aber bloß die halbe Wahrheit.

Reden ist der unmittelbare Ausdruck der Gefühlswelt. Damit dieser Ausdruck beim Hörer einen Eindruck erweckt, muss er dessen Gefühlswelt ansprechen. Dabei ist die Körpersprache sehr hilfreich, aber nicht ausreichend. Es müssen die Ausdrücke und der Zungenschlag dazukommen, die beim Hörer Emotionen erwecken. In aller Regel sind das Laute, welche in dessen früher Kindheit eine Gefühlswelt schufen – muttersprachliche, nachbarschaftliche, Kindergarten-, Bolzplatz-, Zeltlager- und Tanzschullaute – und recht wenig mit geschriebener Hochsprache zu tun haben.

Meine Mutter sprach ein Hochdeutsch, das durch allerlei von meinem Großvater übernommene schwäbische Keime und meiner Großmutter verdankten altbayrischen Einsprengseln verunreinigt war. Damit kam ich auf der Straße nicht durch. Um die Gefühlswelt meiner Spezis zu erreichen, hätte ich das breiteste Oberschwäbisch anzuwenden gehabt, das man sich vorstellen kann. Ich brachte es aber nur zu Mitteloberschwäbisch und hätte eine unglückliche Kindheit gehabt, wenn nicht viele Flüchtlingskinder meine Redemängel geteilt hätten.

Der schlesischen Familie meines früh verstorbenen Vaters klangen die Laute meiner Kindheit allesamt barbarisch. Dort herrschte ein preußisches, mit entzückenden schlesischen Kringeln geschmücktes Hochdeutsch – im Falle meiner dortigen Großmutter mit französischen Redensarten gesprenkelt, wie sie wohl im 19. Jahrhundert höheren Töchtern gelehrt worden waren. Ich hörte auf der Schule – neben Englisch – zwar auch ein wenig Französisch, aber mit schlesischen Kringeln wusste ich zunächst nicht viel anzufangen, genau so wenig wie jene mit meinen schwäbisch-bayerischen Splittern. Irgendwie führte die Liebe dann aber doch zu einer angemessenen Übereinstimmung der Gefühlswelten.

Mit einem solchen Katalysator konnte ich nicht rechnen, als mein Beruf mich nach Hamburg führte. Zwar konnte ich mich im Büro, nachdem ich das rollende gegen ein Gaumen-R eingetauscht hatte, ganz gut in einem langsamen Hochdeutsch ausdrücken (“dich wird mal eine Straßenwalze überfahren”, wurde mir gesagt). Aber beim Skatspielen war das längst nicht ausreichend. Woher sollte ich wissen, was “plietsch” und “muksch” und “fünsch” bedeutet? Ganz abgesehen davon, dass dann im Segelhafen sowieso überwiegend platt gesnackt wurde. Ich habe dann doch gute Freunde dort bekommen, etwa durch einige wider Erwarten gewonnene “Grand ohne Vier” oder durch akzeptablen Einsatz als Vorschotmann, aber gewiss nicht durch Reden.

Was mich in Bezug auf Reden in Argentinien erwartete, eröffnete mir in den ersten Tagen mein Spanischlehrer (übrigens einer, der Spanisch mit sehr starkem Stuttgarter Akzent sprach): “Ich kann dir Grammatik und Orthographie beibringen”, sagte er (und tat das dann auch), “aber glaub bloß nicht, dass du je wie ein Argentinier sprechen wirst. Ab einem gewissen Alter sind Mund- und Kehlmuskulatur nicht mehr fähig, sich auf neue Laute umzustellen.”

Recht hatte er! Ich versuchte alles Mögliche. Manche Landsleute staunten darüber, wie schnell ich das rollende R (wieder) beherrschte. Darüber hinaus trieb ich mich in allen Gegenden herum, in denen man die Gassensprache lernen konnte. Lunfardo mit deutschem Akzent ist aber doch nicht das Richtige und beinahe so lächerlich, wie wenn ein Preuße es auf Bayerisch versucht.

Meine Cordobeser Frau hat mich gewiss nicht wegen meiner verführerischen Reden geheiratet. Sie half mir, ganz im Gegenteil, den Zungenschlag zu verbessern. Auch dadurch, dass ich durch sie Gelegenheit hatte, ziemlich tief in die Urgründe des Argentiniertums einzudringen: Eine weitläufige Familie, zum großen Teil im Binnenland ansässig, mit enger Beziehung zur Volksmusik. Den Gedanken, Gitarre zu lernen, gab ich bald wieder auf. Aber ich lernte einige Folkloretexte, sang, nahm am Viehtreiben und an Hasenjagden teil, an “Peñas”, Schlachtfesten und natürlich an unzähligen Asados. Immer als halber Außenseiter, denn gleichberechtigtes Reden lernte ich dadurch nicht. Wenn mehrere Leute übers Kreuz reden, bricht meine Gefühlswelt zusammen.

Die absolute Grenze für meine argentinische Geselligkeit ist der “Truco”. Truco ist ein Kartenspiel, bei dem es am Allerwenigsten auf die Karten ankommt. Wichtig ist die blitzschnelle Interpretation der kleinsten Geste, eines anscheinend achtlos hingeworfenen Wortfetzens, großsprecherischer oder übertrieben demütiger Wortmalereien der Mitspieler und deren unverzügliche Beantwortung durch gleichermaßen hinterhältige, missverständliche und meist witzige eigene Redekapriolen. Ein paar Mal versuchte ich, Truco zu lernen. Ich fühlte mich dabei wie in einem Tennismatch gegen Federer.

Inzwischen habe ich das Reden weitgehend aufgegeben. Dabei mag ich Silber eigentlich lieber als Gold und bewundere einen ausgezeichneten Redner ohne Einschränkung. Dennoch würde ich einen solchen nicht bitten, mich anzurufen.

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