Schau mir in die Augen

June Newton alias Alice Springs wird in der Berliner Helmut Newton Stiftung mit einer umfassenden Retrospektive ihres fotografischen Werkes geehrt

Von Nicole Büsing und Heiko Klaas

Manchmal muss man ins kalte Wasser springen, um eine große Karriere zu starten. Helmut Newton war 1970 viel zu verschnupft, um den Aufnahmetermin für eine Zigarettenkampagne wahrzunehmen. Seine Ehefrau June ließ sich daher kurz die Kamera erklären, ging ans Set und machte den Job. Offenbar zur vollsten Zufriedenheit des Kunden. Die Aufnahme eines wild gelockten, maskulinen Models für “Gitanes”, die leicht verruchte Lieblingszigarette französischer Musiker und Intellektueller, entsprach genau dem Image der Marke. Das Honorar jedenfalls wurde anstandslos an Helmut Newton überwiesen. So trat June Newton aus dem Schatten ihres berühmten Mannes heraus und wurde von da an regelmäßig für Werbestrecken, unter anderem für den Pariser Edelcoiffeur Jean Louis David, und trendige Modekampagnen gebucht. Die Helmut Newton Stiftung in Berlin präsentiert jetzt die weltweit erste große Retrospektive mit 250 Aufnahmen der Newton-Witwe. Die firmierte jedoch bald schon unter dem Pseudonym Alice Springs. Angeblich, so die Künstlerlegende, hat sie während eines Abendessens einen Dartpfeil auf eine Australienkarte geworfen und dabei rein zufällig die Kleinstadt mit dem wohlklingende Namen getroffen.

Eigentlich war die gebürtige Australierin Theaterschauspielerin. In Paris, wo das Ehepaar Newton, das sich 1946 in Melbourne kennengelernt hatte, damals lebte, fand sie aber auf Grund ihrer mangelnden Französischkenntnisse keinen Job. So kam die Fotografenkarriere gerade recht. Helmut Newton sah in ihr keine Konkurrentin, sondern ermutigte sie, sich auf das Genre Porträt zu stürzen. So stehen auch im Fokus der Berliner Ausstellung Aufnahmen von Protagonisten aus der Modewelt wie Yves Saint Laurent oder Karl Lagerfeld, von bildenden Künstlern wie Gerhard Richter oder Niki de Saint Phalle, von Filmstars und Regisseuren wie Dennis Hopper oder Billy Wilder. Was allen Porträtaufnahmen gemeinsam ist: Alice Springs gelingt es, ihre Modelle zu einem offenen Blick in die Kamera zu bewegen. Oft hat man den Eindruck, sie blicken direkt ins Auge des Betrachters. “Sie agiert wie eine Regisseurin und begegnet ihrem Gegenüber auf Augenhöhe”, so der Kurator der Helmut Newton Stiftung, Matthias Harder.

Alice Springs benutzt eine Kleinbildkamera und natürliches Licht. Kein Blitz, keine Scheinwerfer, keinerlei überflüssiges Tamtam. Sie bevorzugt die häusliche Umgebung ihrer Protagonisten: Künstler in ihrem Atelier oder im Museum, der Modezar Yves Saint Laurent mit seinem Lebensgefährten Pierre Bergé im heimischen Salon. Diese ebenso sensible wie repräsentative Aufnahme fand sogar den Weg in die Privaträume des Pariser Edelschneiders. Gerade die Künstler präsentieren sich für Alice Springs natürlich und unverkrampft: Der Pop Artist Roy Lichtenstein hat den Pinsel nicht aus der Hand gelegt, Keith Haring steht im einfachen T-Shirt und auffällig gemusterter Hose vor einer farbbeklecksten Wand, und Gerhard Richter posiert schon 1987 mit dem Selbstbewusstsein des arrivierten Malers im dunklen Zweireiher mit leger drapiertem Künstlerschal.

“Ihre Porträts haben etwas vollkommen Unschuldiges”, lobte Ehemann Helmut Newton. “Ich kenne sonst niemanden, der auf diese Art und Weise Porträts macht.” Alice Springs hatte auch keine Scheu vor sensiblen Themen. Ihre Aufnahmen von aufgedonnerten Hollywood-Müttern mit Baby haben etwas Entlarvendes. Und die eher düsteren Porträts von zwielichtigen russischen Rausschmeißertypen oder Mitgliedern der Rockerbande Hells Angels entführen in eine Welt jenseits von Glamour und Glorienschein. Ihre ausnahmsweise einmal farbigen Aktfotos mit Models in lesbischen Posen dagegen wirken eher süßlich und verkitscht. An die unterkühlte Klarheit ihres Mannes kommen sie nicht heran – ein Ausrutscher nur in einem ansonsten faszinierenden Œuvre.

Die Berliner Schau würdigt jetzt endlich in umfassender Art und Weise das Werk der Fotografin, die mehr als eine Schattenfrau oder Künstlerwitwe ist. Die Eigenständigkeit ihrer fotografischen Sprache wird mit der abwechslungsreich inszenierten Ausstellung, die man wie ein “Who’s Who” der Kunst-, Film- und Modewelt der 70er bis 90er Jahre durchschreiten kann, eindrucksvoll belegt.

Auf einen Blick:

  • Ausstellung: Alice Springs
  • Ort: Museum für Fotografie – Helmut Newton Stiftung
  • Zeit: bis 15. Mai 2011, Di-So 10-18 Uhr, Do 10-22 Uhr
  • Katalog: Taschen-Verlag, 29,99 Euro
  • Webseite

Fotos von oben nach unten:

Gerhard Richter, Bonn, 1987.

Fashion, Dépêche Mode, Paris, 1971.

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