Videlas Schnurrbart im Museum

Die Ausstellung “Radical Shift” zeigt in Schloss Morsbroich politische und soziale Umbrüche in der Kunst Argentiniens

Von David Schneider

Der Rhein, Schornsteine, Silos, Kühltürme und kilometerlange Rohre prägen das Stadtbild von Leverkusen. Bayer ist nahezu allgegenwärtig. Der ortsansässige Fußballclub bezeichnet sich wie selbstverständlich als “Die Werkself”. Und auch die bekannten Jazztage werden zumindest teilweise vom Chemieriesen unterstützt. Sie sind das eine kulturelle Aushängeschild der 161.000-Einwohner-Stadt. Das andere, ein hübsches Barock-Schlösschen passt eigentlich gar nicht richtig hierher. Etwas außerhalb der Stadt, umgeben von einem englischen Garten, beherbergt Schloss Morsbroich eine der wichtigen zeitgenössischen Kunstsammlungen in Deutschland. Im Jahr 2009 wurde es sogar zum deutschen Museum des Jahres gewählt. “Aufgrund des vorbildlichen Brückenschlages zwischen der eigenen Sammlung und dem Ausstellungsprogramm”, lautet die Begründung. Heute wie im Auszeichnungsjahr zeigt eine Wechselausstellung zeitgenössische Kunst aus Südamerika.

Unter dem Titel “Radical Shift – Politische und soziale Umbrüche in der Kunst Argentiniens seit den 60er Jahren” präsentiert das Museum noch bis zum 22. Mai Werke von Oscar Bony, León Ferrari, Alberto Heredia, Guillermo Kuitca, Victor Grippo und anderen. Abgesehen von einer Ausnahme sind alle Arbeiten der insgesamt 14 argentinischen Künstler zum ersten Mal in Europa zu sehen.

“Ziel der Ausstellung ist es zunächst, argentinische Kunst in Deutschland bekannt zu machen. Darüber hinaus geht es darum zu zeigen, wie die dortigen sozialen und politischen Verhältnisse künstlerische Entwicklungen beeinflusst haben”, erklärt Kuratorin Heike van den Valentyn. Um die verschiedenen Künstlergenerationen und ihre Bildsprachen miteinander in Bezug zu setzen, verzichtet “Radical Shift” auf eine chronologische Präsentation.

“Wir sind ganz stark der Meinung, dass wir die Kunst aus sich heraus wirken lassen müssen und nicht zugekleistert mit erklärenden Texten”, erörtert Museumsdirektor Markus Heinzelmann das dramaturgische Prinzip. Aber so ganz ohne Hintergrundinformationen zur argentinischen (Kunst-)Geschichte kommt “Radical Shift” dann doch nicht aus. Am Museumseingang erhalten Besucher einen doppelseitig bedruckten DIN-A3-Handzettel. Er verhindert, dass sich der Durchschnittsbesucher in den gezeigten Werken und der recht vertrackten neueren Geschichte Argentiniens verliert. Denn welcher deutsche Kunstfreund weiß schon so mir nichts dir nichts, dass das Foto “Arbeiterfamilie” von Oscar Bony während der politischen und wirtschaftlichen Orientierungslosigkeit nach Peróns erster Amtszeit entstand?

1968 stellt Bony die Familie Rodríguez im Instituto Di Tella auf ein Podest. Ihr Ernährer Luis Ricardo, von Beruf Formenbauer, erhält von Bony für die Dauer der Ausstellung das Doppelte seines normalen Arbeitslohns. Eine Provokation. Und bereits kurz nach ihrer Eröffnung wird die Ausstellung von Polizisten geschlossen. Der Grund sind Onganía-kritische Kritzeleien auf einem Exponat. Kurzerhand befördern alle ausstellenden Künstler ihre Kunstwerke auf die Calle Florida, um sie dort öffentlich zu zerstören. “Diese Protestaktion gegen die vordringende Zensur kann man als Wendepunkt in der argentinischen Kunst bezeichnen”, kommentiert Heike van den Valentyn. “Anschließend ist eine Radikalisierung und Politisierung der Kunstszene zu beobachten.”

Zugleich ist die Polizeiaktion eine Ankündigung der ideologischen Säuberungen, die ab 1976 während der Militärdiktatur durchgeführt werden. Zu den Künstlern, die ihre Arbeit trotz Staatsterror fortsetzen, zählt Norberto Gómez. Eindeutig nehmen seine in Leverkusen ausgestellten Kunstharzskulpturen “Gerippe” und “Der Erhängte” (1979) Bezug auf die Foltermethoden des Regimes. Staatliche Gräueltaten thematisiert auch das Werk “Warten auf die Barbaren” von Graciela Sacco aus dem Jahre 1996. In einem kleinen Raum sind Drucke von menschlichen Augenpaaren hinter dünnen Holzleisten angeordnet. Beim Betrachter entsteht so der Eindruck, er werde angestarrt – von verängstigten Menschen, verpackt in Kisten, fertig zum Abtransport.

“Die Auswirkungen der Diktatur sind auch in vielen jüngeren Arbeiten präsent. Zum Teil eher indirekt. Zum Teil sehr direkt”, erläutert Heike van den Valentyn eines der Kennzeichen argentinischer Gegenwartskunst. So greift die 1971 geborene Gabriela Golder mit ihrer Videoinstallation “Im Gedenken an die Vögel” (2000) jene perfide Ermordungspraxis auf, bei der Regimegegner über dem Río de la Plata aus Flugzeugen geworfen wurden.

Wie empfindlich sich das Trauma Diktatur auch heute noch auf die argentinische Kunst auswirkt, hat Heike Valentyn unmittelbar im Vorfeld der Ausstellung erlebt: “Ursprünglich wollten wir Fabián Marcaccios ‘Reduccionismo’ auf das Cover des Kataloges bringen. Die Probedrucke waren schon fertig. Doch die Künstler waren entsetzt. Denn die Arbeit basiert auf einem Porträt von Jorge Videla. Und den wollten sie nicht unkommentiert und sozusagen dekorativ auf dem Cover abgebildet sehen.” Dabei geht Marcaccio keinesfalls unkritisch oder zweideutig mit dem General um. Mittels vierer Abbildungen zoomt er in das Gesicht des Diktators. Jedes Mal verfremdet er dessen Schnurrbart nahezu unmerklich ein wenig mehr. Bild für Bild entwickelt sich der Oberlippenbart so zu einem schwarzen Balken, der für Sprachlosigkeit, Redeverbot und Zensur steht.

Ein kurioser Zufall ist, dass die Ausstellung ausgerechnet im Frühjahr und damit auch am 24. März, dem 35. Jahrestag des Militärputsches stattfindet. Mit Blick auf das offenbar zurzeit noch zurückhaltende Publikumsinteresse, könnte sich dieser Termin als Glücksfall erweisen. Ebenso wie die Art Cologne. Auf der Kunstmesse vom 13. bis zum 17. April werden auch drei argentinische Galerien vertreten sein. Nur ein paar Kilometer rheinaufwärts, in Köln. In Sichtweite des Doms.

Fotos von oben nach unten:
Ein Diktator ist kein Coverboy. Der Ausstellungskatalog wurde deshalb neu gedruckt.

Subversive Arbeiterfamilie. Nach der Schließung ihrer Ausstellung im Instituto Di Tella 1968 zerstörten die Künstler öffentlich ihre Arbeiten.

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