Und laut rauscht das Leben

Kritische Überlegungen zu Claudio Tolcachirs Theaterproduktion “El viento en un violín”

Von Karlotta Bahnsen

Ein lesbisches Paar mit Kinderwunsch, zwei alleinerziehende Mütter, die sich nichts sehnlicher wünschen als das Glück ihrer bereits erwachsenen Kinder, ein unzufriedener, noch bei der Mutter lebender Sohn. Die Familienbande in Claudio Tolcachirs “El viento en un violín” sind alles andere als traditionell.

Zwischen etwas abgeranztem Mobiliar entsteht hier eine Patchworkfamilie der besonderen Art. Der Sohn aus gutem Hause, der mit therapeutischer Hilfe und ordentlich Mutterliebe endlich seine Desorientierung im Leben überwinden soll, wird zum Vater des Wunschkindes zweier junger Frauen auserkoren, die genau wissen, was sie zum Glück brauchen: einen Mann jedenfalls nicht. Plötzlich will aber der werdende Vater auch teilhaben am Familienglück, und außerdem: Würde das Kind nicht viel besser in seiner Familie heranwachsen, mit geregeltem Einkommen und Alltag? Alle wollen schließlich nur das Beste für das Kind, verstecken sich hinter ihm, um eigene Interessen durchzusetzen. Wie das Leben eben so spielt.

Die Figuren in Tolcachirs Stücken suchen ihr Glück, jeder für sich in ambivalenten Zwangsgemeinschaften von Abhängigkeiten, die den Mittelpunkt ihres Lebens formen. Das Geflecht ihrer Bedürfnisse und Wünsche und die Schwierigkeiten, diese umzusetzen, bilden das dramaturgische Fundament des Stückes.

Durch präzise Beobachtungen hat der Autor und Regisseur eine humorvolle und leichte Art gefunden, die Grenzen von Sprache darzustellen, die in diesem Falle zwischen den Generationen bestehen. Die Mütter wollen immer nur das Beste für ihre Kinder, was aber, wenn die Kinder etwas anderes wollen oder einfach nicht zufrieden sind? Sie finden keine Worte für das, was im Leben ihrer Sprösslinge geschieht, bezahlen stattdessen den Therapeuten oder kochen zur Beruhigung erstmal etwas. Geschickt wird die Wahrheit umgangen, hinter Alltagsgebärden verborgen und sich vor der Haushälterin gerechtfertigt. Man will das Handeln von Tolcachirs Figuren nicht bewerten, versteht man doch nur zu gut ihre Motive.

Claudio Tolcachir entwirft ein ungewöhnliches und doch lebensnahes Beziehungsgeflecht mit blitzschnellen Wortgefechten, das in feinster argentinischer Mundart und in rasanten Dialogen mit nicht minderer Situationskomik von der Schwierigkeit erzählt, Situationen zu erfassen, die nicht in unser Muster vom Glück passen. Langweilig wird es nicht in diesem Stück, man wird unterhalten, man lacht über und mit den Figuren. Doch was ist jetzt mit der Wahrheit, die vermeintlich unter der Oberfläche brodelt, was mit den Konflikten der Figuren? Wo sind die Brüche, die dramaturgischen Kniffe, die Tiefen der Charaktere, wo ihre innere Entwicklung? Wann erklingt endlich wieder die Violine, die sich im Titel des Stücks sowie zu seinem Beginn so vielversprechend ankündigt?

“El viento en un violín” ist eine internationale Co-Produktion mit Tolcachirs Theater Timbre 4 aus Buenos Aires, welches dieses Jahr zum internationalen Festival für darstellende Kunst “Festival de Otoño en Primavera” in Madrid eingeladen wurde. Timbre 4 hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Prinzip der Telenovela für die Bühne zu adaptieren. Leider bleibt daher vieles an der Oberfläche hängen, wirkt zu glatt und plätschert als humorvolle, geradlinige Unterhaltung dahin. Es gibt wenige poetische, leise Momente in dem Stück, die wie Inseln wirken und die rauschende Hektik der Aktion wohltuend unterbrechen. Wenn zum Beispiel die Haushälterin Dora beim Nudelteig kneten anfängt zu singen, oder der Therapeut resigniert versucht, seinen Anrufbeantworter neu zu besprechen. In diesen Momenten schaffen die Figuren kurzfristig den Ausbruch aus ihrem Beziehungsknäuel, sind mit sich und in Ruhe, bis sie wieder unterbrochen werden vom lauten Leben.

Gerade durch den Kontrast zur vorherigen Rasanz erreichen aber diese Momente ihre Schönheit und Wahrhaftigkeit. Man verlässt das Theater gut gelaunt und mit Lust auf mehr von dieser Art des wirklichkeitsnahen Theaters, welches das Gewicht der theatralen Tradition mitsamt bedeutungsschwangerer Schwere ablegt. Ein angemessener Schritt auf der Suche nach zeitgemäßen Theaterformen, bei dem jedoch das Potenzial des Theaters zur Erzeugung einer eigenen Welt, die nicht Abbild der Realität ist, nicht zu kurz kommen sollte.

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