Ein Bürotraum

“La isla desierta” von Roberto Arlt im Dunkeln, aufgeführt von “Grupo Ojcuro”

Von Anna Weber

Wir müssten uns jedes Mal selbst verlieren. Statt zu passiven Sitzplatznummern, zu einem Teil des Theaterstücks werden. Mitfühlen, mitschreien, mitlachen, mitleben. Bis wir wieder in die Realität zurückgeworfen werden, benommen zu klatschen beginnen und, während wir noch immer neben uns selbst stehen, das eigene Leben mit dem soeben Gelebten vergleichen.

Aber wie bringt man den Zuschauer dazu mitzuleben, statt sich zurückzulehnen und zu konsumieren? Das Ensemble “Grupo Ojcuro” hat eine verblüffend einfache, aber wirkungsvolle Antwort gefunden: Man macht ganz einfach das Licht aus.

Seit zehn Jahren führt “Grupo Ojcuro” das Stück “La isla desierta” von Roberto Arlt im Dunkeln auf und hat damit zahlreiche Preise gewonnen. Der Regisseur José Menchaca adaptierte das Stück des argentinischen Schriftstellers und begann mit blinden Schauspielern zusammenzuarbeiten, die meisten von ihnen ohne Schauspielerfahrung. Anschließend kamen sehende Schauspieler dazu, denen die Augen verbunden wurden. Und zuletzt wurde das Licht gelöscht.

Im Dunkeln findet sich der Zuschauer in einem Großraumbüro wieder und hört, fühlt und riecht die Träume einer Gruppe melancholischer Büroangestellter. “Es ist unmöglich hier zu arbeiten”, ruft der langjährige Angestelle Manuel plötzlich und unterbricht so die ewigen Schreibmaschinensalven. Wegen der Schiffe, erklärt er. Seit das Büro aus dem Untergeschoss ans Tageslicht verlegt wurde und man durch das große Bürofenster die auslaufenden Schiffe betrachten kann, träumen die Angestellten, statt zu arbeiten.

Fremde Länder, nie Gelebtes, nie Gesehenes, ein Abenteuer, eine einsame Insel. Manuels Schrei gibt Anlass zu einem Kollektivtraum von einem Ort, wo es keine Richter, Buchhalter und Scheidungspapiere gibt. Stattdessen lebt man von Freiheit, Liebe und Magnoliensalat. Statt auf Schreibmaschinen hämmern die Angestellten bald auf Buschtrommeln ein und verlieren sich in wilden Tänzen, bis der Traum schließlich an der Realität zerplatzt.

“La isla desierta” ist auch für den Zuschauer nicht anderes als eine Einladung, sich zu verlieren. Für einmal ist da keine Bühne, kein Zuschauerraum. Das Theater geschieht rundherum und mit dem Zuschauer. Ist der Schrei oder das Gelächter in der Dunkelheit Teil des Stücks oder die Reaktion dessen, der neben einem sitzt? Oder gehört sogar die Reaktion zum Stück? Aus dem Nichts wird man überflutet und mitgerissen, bis es egal ist, wer da lacht, wer da schreit. Am Ende leben alle denselben Traum.

Es fällt nicht schwer, sich in “La isla desierta” zu vergessen. Das Stück ist leicht, man lacht. Keine schwerfällige Kritik an dieser Gesellschaft, die ihre Angestellten in Büros sperrt, die vor unerfüllten Träumen platzen. Doch wenn man am Ende neben sich und all den anderen im Dunkeln steht und zu klatschen beginnt, da sieht man trotzdem plötzlich das eigene Bürofenster vor sich.

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