Die Pirateninsel II

(K)ein Märchen vom Südatlantik (Fortsetzung)

Von Friedbert W. Böhm

Auf jener vom Fregattseglerpärchen beherrschten Vogelinsel war eine seltsame Ambivalenz zu beobachten. Einerseits fluchten die fleißigen Fischer jeden Tag stärker ob der Hemmnisse und Verleumdungen, denen sie seitens des Herrscherpärchens täglich ausgesetzt waren. Zum anderen jedoch lebte es sich trotzdem ganz gut auf der Insel und zahlreiche andere Bewohner fühlten sich ganz wohl.

Der Fischreichtum nämlich, von dem man traditionell lebte und der durch die Raffsucht der Herrscher zu verebben gedroht hatte, begann unvermittelt wieder zu wachsen. Begebenheiten in einer fernen Region hatten zur Folge, dass neue, ergiebige Schwärme an den Küsten auftauchten und die Fangergebnisse belebten.

So konnten die Fregattsegler nicht nur das eigene Wohlleben und das ihrer Freunde unverändert fortführen; sie hielten es auch für angebracht, den nicht besonders geschickten oder fleißigen Fischern etwas von ihrer Beute abzugeben. Eigentlich waren das nur Schwänze und Gräten, aber für diese armen Vögel (denen man eigentlich das Fischen hätte beibringen sollen) bedeutete es eine Erleichterung. Natürlich ging es den Herrschern nicht um diese Erleichterung, sondern darum, die Armen zum Gemeinschaftsfelsen zu locken, um der unentwegt parlierenden Fregattseglerin ein dankbares Publikum zu verschaffen. Das gelang ihnen auch und so schien die Herrschaft für viele Jahre gesichert.

Dann geschah etwas gänzlich Unerwartetes. Von einem Tag auf den anderen verschied der Fregattseglerich. Es gab eine pompöse Beerdigung. Alle Raubmöwen und sonstigen Freunde überboten sich gegenseitig an Lobreden und bezeichneten ihn als den größten Wohltäter der Insel seit deren Bestehen. Sein Weibchen schien untröstlich. Es zeigte sich fürderhin nur noch in Trauerfedern und sein Geschnatter war tränendurchtränkt.

Die Inselgemeinschaft fühlte mit. Einerseits gehörte es sich einfach, einer Witwe zu kondolieren. Zum Anderen hoffte man, dass die Fregattseglerin, nun ohne den Einfluss des herrschsüchtigen, aggressiven und miesepeterischen Gatten, eine friedfertigere, vernünftigere, den traditionellen Spielregeln angemessenere Regierung führen würde.

Weit gefehlt! Als ob sie befürchtete, Schwäche zu zeigen, verhielt sie sich nun noch kämpferischer und ungerechter als der Seglerich je gewesen war. Jener hatte nämlich bei aller schamloser Machtlust über eine gewisse schlaue Vorsicht verfügt, die ihn vor allzu großen Fehlleistungen bewahrte. Sein Weibchen aber hielt sich für unübertrefflich intelligent und glaubte, absolut keine Rücksichten auf fremde Meinungen nehmen zu müssen, zumal ihr die Ovationen der von den Raubmöwen zum Gemeinschaftsfelsen zugetriebenen armen Vögel suggerierten, sie sei von Allen geliebt.

Die Herrscherin vertrieb von ihrem Nestbaum die wenigen Mitflöter ihes Gatten, die noch einigermaßen vernünftig gewesen waren, und ersetzte sie durch seltsame Vögel. Es waren dies solche, deren angeschimmelte Weltverbesserungsversionen bereits vor Generationen auf der Insel ziemliches Unheil angerichtet hatten, darunter in die Jahre gekommene, aber immer noch pubertäre Revoluzzermöwen. Diese brachten ihre Küken mit, welche sich sofort breitmachten.

Es konnte nicht verwundern, dass es auf dem Eiland nun drunter und drüber ging. Über die Verteilung der Beute kamen sich Revoluzzer- und Raubmöwen untereinander ins Gehege. Reihum belagerten sie den Nestbaum der Herrscherin, um immer neue und immer größere Vorteile zu erlangen. Gleichzeitig bedrängten sie die fleißigen Tölpel, Silbermöwen, Austernfischer und Albatrosse auf nahezu unerträgliche Weise. Schamlos vergriffen sie sich sogar an den bescheidenen Almosen, die für die Armen gedacht waren.

Sie schreckten nicht einmal davor zurück, sich im Namen der Herrscherin den von den Insulanern so geliebten Flugballsport unter den Nagel zu reißen, so dass ehemals weltweit berühmte Sportvogelschaften dahinsiechten und in Vergessenheit gerieten. Die allgemeine Unordnung wurde von ortsfremden Luftpiraten genutzt, um einen Handel mit wohlschmeckenden, jedoch sehr gesundheitsschädlichen Fischelixieren zu etablieren. Nicht wenige Inselbewohner wurden süchtig danach und brachten solche Substanzen auch in fremde Gegenden, wodurch der Ruf der Insel großen Schaden erlitt.

Von alledem wollte die Herrscherin nichts wissen. Sie hatte sich ausschließlich mit Japiepsern und Síseñoras umgeben, welche ihr möglichst nur die angenehmen Nachrichten zuflöteten und für jede weniger angenehme gleich eine gewundene entschuldigende Erklärung mitträllerten, wenn sie diese nicht von Vornerherein als böswillige Lügen bezeichneten.

Es gab auf der Insel eine Echowand, welche im Prinzip allen Bewohnern zur Verfügung gestanden hatte, um ihre Meinung weithin kundzutun. Diese Wand war der Lieblingsplatz der Fregattseglerin. Sie nutzte ihn unentwegt, um ihre Gegner zu zerschnattern und das Inselvolk mit Aussagen zu informieren, die mit der Wahrheit immer weniger zu tun hatten. Dabei vergewisserte sie sich ständig bei den sie umgebenden Japiepsern, ob ihre Aussagen auch wirklichkeitsgetreu seien (was ihr natürlich immer bestätigt wurde), damit sie etwaig entdeckte Lügen immer jenen zuschieben konnte.

Der Zugang zu dieser ehemals öffentlichen Echowand wurde dann zunehmend eingeschränkt, damit Meinungen, die der Herrscherin nicht genehm waren, nicht mehr so einfach verbreitet werden konnten. Und wenn es dennoch einem Gegner gelang, gehört zu werden, dann gab es sofort etliche von den Raubmöwen alimentierte Sturmpfeifer und Windquäker, die ihn beschimpften und übertönten.

Und nun nahte der Zeitpunkt, an dem die Inselbewohner einen neuen Herrscher zu wählen hatten. Schafften sie es, die Fregattseglerin abzuslösen und von einer Piraten- zu einer normalen Insel zu werden? Eine Fortsetzung des vorliegenden Berichts könnte diese Frage beantworten.

Wenn es dann noch Zugang zur Echowand gibt.

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