Nah dran und in Farbe
Das Essener Museum Folkwang zeigt eine große Übersichtsschau des New Yorker Fotografen Joel Sternfeld
Von Nicole Büsing und Heiko Klaas
Joel Sternfeld ist ein sympathischer und erzählfreudiger Mensch. Doch in einem Punkt versteht der New Yorker Fotograf absolut keinen Spaß. Niemand darf ihn fotografieren. “Ein guter Fotograf muss versuchen, unsichtbar zu bleiben. Wie eine Fliege auf der Wand”, sagt er und verbittet sich jegliches Porträt. Sternfelds Werk wird jetzt in einer großen Übersichtsschau im Essener Museum Folkwang gezeigt. 130 seit 1970 entstandene Farbfotografien sind zu sehen. Einen Schwerpunkt mit 60 Aufnahmen bildet sein bisher unveröffentlichtes Frühwerk aus den Jahren zwischen 1970 und 1980. Es ist Joel Sternfelds erste große Einzelausstellung in Europa.
Eigentlich erstaunlich, denn seine Fotografien des amerikanischen Alltags, von Menschen auf der Straße und unheroischen Landschaften wurden bereits in allen großen amerikanischen Museen gezeigt. Seine anspruchsvollen Buchprojekte werden auch in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen. Ute Eskildsen, seit 1979 Kuratorin für Fotografie am Museum Folkwang, zeigt den 1944 geborenen Joel Sternfeld nun in der letzten großen Einzelpräsentation vor ihrer Pensionierung. Mit Sternfelds Werk ist sie seit langem bestens vertraut: “Es geht bei ihm immer um den Menschen, auch wenn er auf den Bildern nicht immer zu sehen ist.”
Den Sommer 1975 verbrachte der damals 31-jährige Sternfeld im Ferienort Nags Head in North Carolina. Im darauffolgenden Herbst stand ihm eine komplizierte Wirbelsäulenoperation bevor. Sollte sie schiefgehen, so hatten ihm die Ärzte gesagt, wäre er vom Hals an gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. Sternfeld entschied sich also, sich mit der Kamera dort ins volle Leben zu stürzen, wo es scheinbar am unbeschwertesten war. Mitten im Sommer begab er sich an die Atlantikküste. Er kam bei einem befreundeten Surfer unter und fotografierte Menschen beim Sonnenbad, das abendliche Treiben in den Bars, junge gebräunte Paare am Strand, aber auch alte, vom Leben gezeichnete Sonnenanbeter mit verbranntem Rücken. Nags Head scheint wahrlich kein Luxusressort zu sein. Auf Sternfelds Fotografien sieht man marode Strandhütten, einfache Fastfood-Lokale und dazwischen immer wieder Menschen beim Versuch, der Melancholie des kurzen Sommers Augenblicke des bescheidenen Glücks abzutrotzen.
Die Operation verlief letzten Endes komplikationslos. Und so konnte Sternfeld, dem gleich zweimal hintereinander ein großzügiges Guggenheim-Stipendium zuerkannt wurde, seine fotografischen Recherchen in seinem Heimatland fortsetzen. Von seinem ersten richtigen Geld kaufte er sich einen VW-Bus und machte sich auf, den Seelenzustand eines Landes zu erkunden, das 1976 in einer Art verordnetem nationalem Rausch das 200. Jubiläum seiner Unabhängigkeit feierte. Den offiziellen Bildern von Glamour, Patriotismus und Pathos setzte Sternfeld Aufnahmen des ganz normalen amerikanischen Alltags entgegen. Passanten in der Rush Hour: Ein Mann kauft sich rasch noch ein Sixpack Bier für den Feierabend. Ein Anwalt holt einen Anzug aus der Reinigung.
Häufig benutzt Sternfeld ein stroboskopartiges Blitzlicht. Das Ergebnis sind ungeschönte, oft extrem ausschnitthafte Aufnahmen, die die Menschen zeigen, wie sie wirklich sind – mit Pickeln, Sorgenfalten und manchmal auch fettigen Haaren.
Sternfeld ist kein Hohepriester des auratischen Einzelbildes. Er arbeitet stets in Serien. “Mich interessieren nicht einzelne Wörter, sondern ganze Geschichten”, sagt er. In seiner Serie “On This Site” etwa hielt er auf den ersten Blick vollkommen unspektakulär wirkende Orte und Landschaften fest. Auf beigefügten Texttafeln erfährt der Betrachter, dass es sich um Tatorte von Kapitalverbrechen handelt.
In “American Prospects” entwirft Sternfeld auf großformatigen Panorama-Aufnahmen ein fast an Hollywood-Einstellungen erinnerndes Bild amerikanischer Wirklichkeiten. Beiläufiges und Dramatisches, Komik und Tragik rückt Sternfeld eng aneinander. So sucht sich auf der Aufnahme “McLean, Virginia, December 1978” ein Feuerwehrmann in orangefarbener Jacke in aller Ruhe an einem Kürbisstand einen Halloweenkürbis aus, während seine Kollegen im Hintergrund vergeblich versuchen, ein lichterloh brennendes Haus zu löschen. Gleich dreimal taucht die Farbe Orange auf dieser Aufnahme auf. Bei aller Inhaltlichkeit, bei allem gesellschaftlichen Skeptizismus: Sternfeld ist immer auch ein Meister der formal spannenden Bildkonstruktion. Sein dezidierter Einsatz von Farbe lenkt den Betrachterblick nicht ab – er treibt ihn an.
Farbfotografie in der Kunst – heute ist das eine Selbstverständlichkeit. Als Joel Sternfeld aber in den frühen siebziger Jahren damit anfing, stellte der künstlerische Gebrauch von Farbfilm noch einen enormen Tabubruch dar. Nur einige andere Fotografen wie William Eggleston, Helen Levitt oder Stephen Shore hatten ihn zuvor gewagt. Sternfeld, der seriell arbeitende Farb-Virtuose mit dem Hang zur psychosozialen Erforschung amerikanischer Befindlichkeiten, hat sich in diesem Umfeld seinen ganz eigenen Weg gebahnt. Im Museum Folkwang kann man das Werk dieses einflussreichen Pioniers der unaufgeregt-analytischen Farbfotografie jetzt in all seiner Tiefe entdecken.
Auf einen Blick:
- Ausstellung: Joel Sternfeld – Farbfotografien seit 1970
- Ort: Museum Folkwang, Essen
- Zeit: 16. Juli -23. Oktober 2011
- Katalog: Steidl Verlag, 326 S., 48 Euro
- Internet
Fotos von oben nach unten:
- Washington D.C., 1974
- “Mel McCombe”, Nags Head, NC, 1975
- “The Space Shuttle Columbia Lands at Kelly Lackland Air Force Base”, San Antonio, Texas, 1979. Aus der Serie “American Prospects”
- “McLean”, Virginia, 1978. Aus der Serie “American Prospects”
- Copyright: Joel Sternfeld und Luhring Augustine, New York, 2011