Porträt einer Wahrnehmung

Der Schweizer Regisseur Ramòn Giger zu seinem Film “Eine ruhige Jacke”, der im Rahmen von DocBuenosAires lief

Von Laura Wagener

Wie beziehungsfähig ist ein Mensch, wie nimmt ein Mensch emotional Anteil, der seinem Krankheitsbild entsprechend durch das Fehlen des kommunikativen Mediums Sprache und der Fähigkeit zur Reizselektion in seiner eigenen, nach außen weitgehend isolierten Welt lebt? Der Schweizer Regisseur und Kameramann Ramòn Giger (Foto) führt den Zuschauer mit einem Zitat des österreichischen Psychoanalytikers Leo Kanner, der sich als erster Wissenschaftler mit Autismus auseinandersetzte, in das Kernthema seines ersten Dokumentarfilms “Eine ruhige Jacke” ein: “Wir müssen also annehmen, dass diese Kinder mit einer angeborenen Unfähigkeit zur Welt gekommen sind, normale und biologisch vorgesehene affektive Kontakte mit anderen Menschen herzustellen.”

Die Idee zu dem Film kam dem 28-jährigen Giger während des Ableistens seines Zivildienstes in einer Betreuungsstelle für Menschen mit Behinderungen, wo er die beiden zukünftigen Protagonisten, den autistischen Roman und dessen Betreuer Xaver kennenlernte.

Ein halbes Jahr begleitete er Roman in seinem Alltag und in der Interaktion mit seinem Betreuer. Der junge Mann wird jedoch nicht nur passiv gefilmt, sondern die besondere Intimität des Films entsteht vor allem durch die von dem Autisten selbst mit einer Handkamera gefilmten Sequenzen. Diese Einblicke in die Wahrnehmung Romans sind besonders kostbar, da er nicht spricht. Obwohl er sich mit Hilfe einer Kommunikationstafel in überraschender Komplexität ausdrücken kann, belaufen sich seine direkten Äußerungen auf brummende Laute, Schreie oder diffuse Töne.

Der Regisseur selbst sagte im Interview, dass er anfänglich wohl zu “egoistisch”, zu “naiv” und zu sehr mit einem speziellen “künstlerischen Anspruch” an sein Projekt herangegangen sei. Seine, nach eigener Aussage zu sehr auf “Klischees” fußende Ausgangsposition, Roman “in seine Welt begleiten” zu wollen, den Zuschauer durch eine auditiv-visuelle Sprache in die Welt eines Autisten eintauchen zu lassen, wurde bald eines Besseren belehrt, denn der junge Autist, der sich im übrigen selbst als Protagonist vorgeschlagen hatte, stellte schnell klar, er wolle als “totaler Mensch” dargestellt werden, der von seinen Mitmenschen nicht nur als Autist verstanden wird.

In den sechs Jahren, in denen das reichhaltige Filmmaterial nach Abschluss der Dreharbeiten noch bearbeitet wurde, bis “Eine ruhige Jacke” im letzten Jahr nun endlich seine Weltpremiere feierte, kristallisierte sich immer mehr heraus, dass der Film, entgegen der anfänglichen Intentionen, vor allem die Möglichkeit bieten sollte, Roman kennenzulernen. Der Zuschauer sollte Gelegenheit haben, sich auf ihn einzulassen und zu entdecken, dass Roman mitnichten in einer isolierten Welt lebt, sondern “unsere” Welt für ihn nicht weniger real ist und er, wenn auch auf andere Art und Weise, darin ebenso real involviert ist.

Giger bemerkt: “Bis vor ein paar Jahrzehnten hat man noch geglaubt, dass Autisten einfach psychisch erkrankt oder geistig behindert sind, bis man dann endlich durch harte Arbeit erkannt hat, dass sie in den meisten Fällen über einen völlig normalen IQ verfügen und da emotional schon sehr viel passiert.”

Besonders deutlich wird dies im Film, als Roman davon in Kenntnis gesetzt wird, dass sein Betreuer Xaver gestorben ist. Man sieht dem jungen Mann an, dass diese Nachricht einige Emotionen in ihm in Gang setzt, und mit Hilfe der gestützten Kommunikation äußert er letzte Wünsche und Bedauern, es dem Betreuer manchmal doch etwas schwer gemacht zu haben.

An anderer Stelle wird er gefragt, was er sich in Belastungssituationen wünschen würde, um diese besser zu meistern, und seine Antwort, “eine ruhige Jacke”, stellt dar, wie komplex Roman das Verhältnis zwischen sich selbst und der ihn mitunter überfordernden Außenwelt erkennt.

Die Arbeit an seinem Erstlingswerk hat den Entschluss Ramòn Gigers, auch weiterhin dokumentieren zu wollen, noch weiter verfestigt. Er sagt, über den Prozess des Filmens und der anschließenden Reaktion auf das Resultat eine Menge über sich gelernt zu haben, die Notwendigkeit erkannt zu haben, “mal einen Schritt zurückzutreten” in punkto Erwartungen, sich Zeit für “persönliche Prozesse” zu nehmen, um dann wieder “einen Schritt weiter” zu machen.

Er sieht, besonders bei einem von ihm als zweifelhaft betitelten Medium wie dem Fernsehen, eine starke persönliche Verantwortung, besonders kritisch gegenüber sich selbst und seiner Produktion zu sein. Bei der Premiere seines Films am Mittwochabend auf dem Dokumentarfilmfestival DocBuenos Aires gab er an, durchaus auch provozieren zu wollen.

Da sein nächstes Werk, ein Porträt über die Beziehung zwischen seinem Vater und ihm, bereits in Arbeit ist, darf man sich bereits auf weitere Bilder dieses interessanten Schweizer Newcomer-Regisseurs freuen und gespannt sein, welche gedanklichen Barrieren wohl diesmal zum Einsturz gebracht werden.

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