Wo die Farbe passiert

Das Malba feiert sein 10-jähriges Jubiläum mit der ersten Retrospektive des venezolanischen Künstlers Carlos Cruz-Diez (*1923) auf dem lateinamerikanischen Kontinent

Von Maike Pricelius

“Ich wünsche mir, dass meine Arbeit das gleiche Wohlgefallen auslöst,
welches die Malerei bisher produziert hat, allerdings ohne Malerei zu sein.”
(Carlos Cruz-Diez)

Das zentrale Thema der Ausstellung ist die Farbe. Keine bestimmte Farbe, wie das Grau bei Gerhard Richter oder das Blau von Yves Klein, sondern die Farbe an sich als eine autonome, lebendige Erfahrung, die der Besucher bei seinem Gang durch die Ausstellung macht, losgelöst vom herkömmlichen Bildträger.

Licht fällt durch die Glaswand des Museums im zweiten Stock des Malba, in dem die Ausstellung beginnt. Vor den Fenstern hängen bunte Plexiglasscheiben übereinander, hintereinander, im rechten Winkel zueinander, sich gegenseitig überlagernd. Gleich als erstes, wenn man die Rolltreppe verlässt, wird der Blick von diesem frühen Environment “Transcromía ambiental”, 1965-2010 von Cruz-Diez angezogen. Fast jeder bleibt stehen, geht zurück, blickt zwischen die Plexiglasscheiben. Welche Farben haben diese nun? Das hängt, wie so oft, vom Standpunkt des Betrachters ab. Gelb, Rot, Grün, Blau, Organe, Pink, Lila. An den Stellen, an denen das Licht durch verschiedene der transparenten Plexiglasscheiben fällt, entstehen neue Farben, die sich durch die eigene Bewegung im Raum ständig verändern. Die Farbe wird nicht als feststehend erfahren, sondern als lebendige, relative Einheit, abhängig vom jeweiligen Betrachter, dem Licht und dem Raum.

In den folgenden Sälen zeigt die Ausstellung Werke von Carlos Cruz-Diez von 1954 bis heute, die die Entwicklung des Künstlers und seiner langjährigen Beschäftigung mit der Farbe vorstellen. Über 40 seiner “Fisocromías” sind im Malba zu sehen. Schon im Titel ist der für Cruz-Diez so wichtige Aspekt der physischen Erfahrung von Farbe angelegt, Praxis gewordene Farbenlehre. Cruz-Diez zerlegt die Farben in ihre Einzelteile, die das Auge des Betrachter wieder zusammenfügen muss. So entsteht auf der Retina eine virtuelle, neue Farbe genau an der Stelle, an der zwei Komplementärfarben zusammentreffen.

Diese frühen Werke wirken auf den ersten Blick wie abstrakte Malerei, doch bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass kein Pinsel und keine malerische Geste für den Farbauftrag verantwortlich sind. Die Werke bestehen aus millimeterdünnen Kartons, die nebeneinander auf Holz in einem Aluminiumrahmen angebracht sind und deren Rücken farbig bemalt sind. Die Form und der Zuschnitt der einzelnen Platten variiert, so dass einige weiter in den Raum hineinragen als andere. Dadurch entsteht ein dreidimensionaler Eindruck. Das Bild wird zum Objekt. Durch die rhythmische Anordnung der farbigen Streifen entsteht innerhalb des Bildraums eine eigene Bewegung. Das Auge des Betrachters versucht Vorder- und Hintergrund zu begreifen. Die expressiven Formen bieten dem Auge als Entdecker viel Material zum Erkunden. Bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Besucher zum nächsten Werk geht, wirkt das Werk wie ein normales, abstraktes Gemälde. Erst aus der Bewegung heraus verändert sich das Bild. Die Farben wechseln und es zeigen sich neue Formen. Die Materialität und die Unmittelbarkeit der Erfahrung dieser frühen Arbeiten löst sich in den späteren “Fisocromiás” auf. Die Arbeiten werden komplexer in ihrer Struktur und der Künstler verwendet mehr Farben als das ursprüngliche Rot, Grün, Schwarz und Weiß. Statt der handbemalten Kartonrücken fügt Cruz-Diez transparente, farbige Plexiglasscheiben oder spiegelnde Elemente ein, die als Filter funktionieren, und welche durch den Blick von der Seite die Farben der benachbarten Streifen verändern.

In den “Fisocromías” tauchen noch Formen, wie Rechtecke, Dreiecke oder Kreise auf, während die Farbe an den Bildträger gebunden bleibt. Die Ausstellung zeigt jedoch zwei weitere Environments neben dem hier am Anfang beschriebenen, in denen die Entwicklung der Farbe in den Raum bis zu ihrem Extrempunkt getrieben wird. In “Cromosaturación”, 1965 (zum ersten Mal im Ostwald Museum in Düsseldorf 1968 gezeigt), wird allein die Farbe zum Ereignis. Der Künstler hat hier eine Situation geschaffen, in dem der Betrachter vollständig in die Farbe eintaucht. In drei zur Seite hin offenen Kammern sind jeweils grüne, rote, blaue Neonröhren angebracht, deren Lichtwellen sich in dem offenen Gang überschneiden. Durchwandert man die Räume, bleibt eine Spur des Lichts aus dem ersten Raum auf der Retina zurück, und sobald man die Schwelle zum nächsten überschritten hat, mischen sich die Farbeindrücke und verändern sich stetig, bis sich das Auge an die neue Situation angepasst hat. Die eigene Wahrnehmung wird so zum zentralen Gegenstand der Reflektion.

Auch im dritten Environment “Ambiente cromointerferente”, 1974-2011 von Cruz-Diez spielt die Bewegung der Betrachter eine zentrale Rolle. Um in den zweiten Teil der Ausstellung zu gelangen, wird der Besucher durch einen Raum geleitet, in dem drei Objekte hängen, zwei runde Stelen und ein Ballon. Der ganze Raum besteht aus einer dreidimensionalen chromatischen Projektion, die an die “Fisocromías” erinnern. Die Farbstreifen bewegen sich und versetzen die stillstehenden Objekte in Bewegung. So wird der eigene Körper Teil der Transformation.

Aber Cruz-Diez’ Wirken bleibt nicht nur auf den Museumsraum beschränkt. Im letzten Teil der Ausstellung werden seine architektonischen Projekte, Interventionen und Skulpturen im öffentlichen Raum gezeigt, die auf der ganzen Welt verwirklicht wurden. Für diese greift er auf die gleichen Prinzipien zurück, die er schon in seinen gerahmten, an den Wänden hängenden “Fisocromías” verwendet hat, Werke, bestehend aus farbigen, sich wiederholenden Streifen, die ihr Potenzial erst durch die Bewegung und das Auge des Betrachters realisieren. Ein Fußgängerstreifen in Houston besteht aus drei farbigen Streifen, die von einem sie schräg kreuzenden schwarzen Streifen geschnitten werden. In Venezuela und Spanien hat der Künstler Siloanlagen in seinen chromatischen Streifen bemalt, genauso wie auf Flugzeug- und Schiffmodellen.

“Farbe ist ein Prozess, eine Wirklichkeit, welche unser Sein mit der gleichen Intensität beeinflusst wie Kälte, Hitze, Lärm”, beschreibt Cruz-Diez im Katalog zur Ausstellung die zentrale Bedeutung der Farbe. Die Ausstellung macht dies für den Besucher am eigenen Leib erfahrbar.

  • Carlos Cruz-Diez, “El color en el espacio y en el tiempo” (Die Farbe im Raum und in der Zeit). Kuratiert von Mari Carmen Ramirez. Malba (Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires), Av. Figueroa Alcorta 3415, Säle 5 und 3 (2. und 1. Stock). Do-Mo und feiertags 12-20, Mi bis 21 Uhr, dienstags geschlossen. Eintritt 22 Pesos, Lehrer, Rentner und Studenten 11 Pesos, unter 5-Jährige gratis. Mi: Eintritt 10 Pesos, Lehrer und Rentner 5 Pesos, Studenten gratis. 21.9.-5.3.2012.

Fotos von oben nch unten:

Carlos Cruz-Diez, “Ambiente cromointerferente”.
Miami Art Museum, Florida, USA, 2010

Carlos Cruz-Diez, “Color aditivo – Prueba de taller (investigación)”, 1963, Siebdruck auf Papier, 25 x 25 cm.
Privatsammlung © 2010 Carlos Cruz-Diez / Artists Rights Society (ARS), New York / ADAGP, Paris

Carlos Cruz-Diez, “Cromosaturación”, 1965-2004.
Schenkung der Cruz-Diez Foundation an das Museum of Fine Arts Houston

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