Heilende Kraft der Liebe

“Bulbus” von Anja Hilling im Espacio Callejón

Von Susanne Franz

“Küss mich und ich nehm alles zurück”, sagt Manuel zu Amalthea. Die beiden jungen Leute sind an einer verlassenen Busstation in der Nähe der Ortschaft “Bulbus” gelandet, mitten im Winter. Es ist eiskalt, Manuel versucht das Mädchen, das in einen Schlafsack gerollt am Boden liegt, zu wärmen. Er erzählt ihr die Geschichten ihres Lebens: Als er selbst fünf Jahre alt war, begingen seine Eltern Selbstmord. Sie gehörten einer radikalen Gruppe an und sollten gegen einen der ihren aussagen, der einen Richter ermordet hatte. Der Junge fand seine Eltern mitten in der Nacht tot in ihren Betten. Das Mädchen wurde von seiner Mutter in einem Möbelkaufhaus verlassen, als es fünf Jahre alt war. Die Frau gab das Kind unter Angabe eines falschen Namens in der Hüpfburg ab, ging einkaufen und fuhr dann ohne das Mädchen weg. Als die Polizei zwei Wochen später ihre Adresse ausfindig machte, war sie verschwunden.

Manuel erzählt diese erschütternden Geschichten, ohne allzuviel Emotionen zu zeigen. Worum es ihm einzig geht, ist die Liebe Amaltheas. Und die könnte all die schrecklichen Geschehnisse der Vergangenheit vielleicht nicht ungeschehen machen, aber doch heilen. “Küss mich und ich nehm alles zurück.” Aber Amalthea schweigt.

Der von der preisgekrönten deutschen Dramatikerin Anja Hilling erdachte Ort “Bulbus” ist eine Art Sartre’scher Hölle. Hier leben seit über 20 Jahren die Leute zusammen, die im Leben Manuels und Amaltheas eine Rolle spiel(t)en: Amaltheas Mutter Jutta Schratz hat hier einen Laden, für sie arbeitet Markidis, der alte Grieche, der einst von einer Gruppe Neonazis zusammengeschlagen wurde, die dann von einem Richter freigesprochen wurden – der Markidis außerdem des Landes verwies -, der daraufhin von einem Angehörigen einer radikalen Gruppe – Albert Ross, ebenfalls wohnhaft in “Bulbus” – ermordet wurde. Um nicht gegen Ross auszusagen, brachten sich zwei andere Mitglieder der Gruppe, Eltern eines fünfjährigen Jungen, um. Die vierte in “Bulbus” lebende Person ist die Polizistin Rosa Landen, eine Art Bewacherin von Albert Ross, den sie heimlich liebt (und umgekehrt).

In der Mitte der Bühne, die auf gleicher Höhe mit dem Zuschauerraum liegt, befindet sich eine rechteckige “Eisfläche”, auf der sich die vier “Bulbus”-Bewohner regelmäßig zum Eisstockschießen treffen. Sie sind beunruhigt vom plötzlichen Erscheinen der beiden jungen Leute, die die Konflikte, die sie jahrzehntelang verdrängt haben, zum Ausbruch bringen.

Das Regisseuren-Triumvirat “Los últimos tres”, Marcela Martino, Mauro Petrillo und Juan Rearte, hat Hillings Stück wie eine traumgleiche Metapher auf die Bühne gebracht. Die Darsteller sprechen ohne Pathos, Szenen aus der Vergangenheit und der Gegenwart gehen fließend ineinander über, manchmal wird etwas erzählt und dann gespielt. Die Schauspieler, die Schratz und Markidis darstellen, übernehmen auch die Rollen der Eltern Manuels in der Selbstmordnacht. In schlaglichtartigen Szenen treten die einzelnen Figuren an verschiedenen Ecken der Bühne auf, wie Erinnerungsfetzen. “Bulbus” ist ein irrealer Ort, das einzig Greifbare “hier” sind die beiden jungen Leute, die trotz ihres Schicksals Hoffnungsträger sind: Am Ende spricht Amalthea und geht auf Manuels Liebeswerben ein.

“Bulbus” wird noch einmal am 13. November um 17 Uhr im Espacio Callejón, Humahuaca 3759, gezeigt. Der Eintritt kostet 45 Pesos, für Rentner und Studenten ermäßigt 30 Pesos. Reservierungen unter Tel.: 4862-1167.

Fotos von oben nach unten:

Manuel (Martín Rey) und Amalthea (Leticia Frenkel).

Die “Bulbus”-Bewohner (v.l.): Rosa Landen (Soledad Fernández Mouján), Julia Schratz (Carolina Balbi), der alte Markidis (Pablo Kuguel) und Albert Ross (Agustín Allende).

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