Ein paar Gänge zurückschalten

Die beiden -Losigkeiten

Von Friedbert W. Böhm

Wenn wir einmal für einen Augenblick die Schuldenkrise beiseite lassen, gibt es in Deutschland und einigen anderen westlichen Ländern zwei Grundübel: Arbeitslosigkeit und Kinderlosigkeit. Liegt es nicht eigentlich auf der Hand, dass diese Übel sich gegenseitig beheben?

Dass die Arbeit durch Automatisierung und Rationalisierung weniger werden würde, wusste man schon in den Sechzigern (obwohl noch niemand sich Fabrikroboter oder Onlinekäufe und -zahlungen vorstellen konnte). Damals träumte man von einem 4-stündigen Arbeitstag – natürlich bei gleichem Lohn – und die Besorgnis war, was man wohl mit der riesigen Freizeit anfangen solle. Dabei war die heutige Geburtenschwäche noch gar kein Thema; man musste also mit der Verteilung der schrumpfenden Arbeit auf eine gleiche oder sogar steigende Bevölkerung rechnen.

Es ist ganz anders gekommen. Die Arbeit ist nicht nur weniger geworden, sie ist auch ausgewandert. Erst Japaner und Koreaner, dann Chinesen, Inder, sonstige Asiaten, Osteuropäer, Mexikaner, Brasilianer und auch schon manche Afrikaner haben durch großen Fleiß und geringe Löhne praktisch alle lohnintensiven Industrien an sich gezogen, und einige jener Länder sind dabei, dies auch mit hochwertigen Produktionen und den Finanzen zu tun. Mit Spitzentechnologie und cleveren Nischenprodukten werden die alten Industrieländer schon noch eine Weile in der Weltwirtschaft mitmischen, aber die Zeiten des Wachstums, des ständig steigenden Wohlstands, sind unwiderruflich vorbei.

Und das verträgt sich sehr gut damit, dass in unseren Ländern auch die Bevölkerung nicht mehr wächst.

Oder hält es irgend jemand im Ernst für notwendig, uns mehrheitlich Übersättigte und Eingeengte mit noch mehr Häusern, Straßen, Autos, Einkaufzentren, Flughäfen und elektronischem Spielzeug zuzudecken?

Ich weiß schon: Es gibt auch in reichen Ländern eine Menge Bürger, die sich überhaupt nicht vom Konsum “zugedeckt” fühlen. Das ist aber ein Verteilungs-Sonderproblem, dem unser Thema nicht gilt. Auf der anderen Seite des Bildes haben wir ja auch immer zahlreichere bestens ausgebildete und besoldete Mitmenschen, die des Überflusses an Arbeit und Konsum so überdrüssig sind, dass sie beides radikal reduzieren und sich auf einen verlassenen Bauernhof oder eine ferne Insel zurückziehen.

Wäre es nicht möglich, dieselbe Freiheit von Stress, gesunde Ruhe, erfrischende Bewegungsfreiheit durch Verzicht auf einiges von dem zu erreichen, was unter Anlegung objektiver Maßstäbe als überflüssig gelten muss? Von Gymnastiksälen etwa, die überquellen von dem Laufen, Radfahren, Strecken, Gewichtheben dienenden Geräten? Wenn unsere Wälder nicht von asphaltierten Straßen kleinteilig zerschnitten und diese von Autos verstopft wären, wodurch das natürliche Laufen, Radfahren, Pilzesammeln und Sicheineweidenflöteschneiden so unerquicklich wird, bräuchten wir diese Säle nicht. Dann müssten wir vielleicht auch nicht jedes lange Wochenende in die Toscana fahren oder nach Mallorca fliegen! Der Verzehr frischer argentinischer Äpfel im europäischen Frühjahr oder von neuseeländischen Kiwis das ganze Jahr über – ehemals als Neuheit geschätzt und als Statussymbol – ist inzwischen so allgemein geworden, dass wir dabei vergessen haben, wie überraschend erquicklich das Erscheinen eigener erster Jahreszeitfrüchte nach längerer Entbehrung sein kann. Der Neuigkeitswahn überhaupt: Gebirge von nahezu neuwertigen, aber eben “veralteten”, Fernsehern, PCs, Notebooks, Handys, Kameras und anderem elektronischen und sonstigem Schnickschnack häufen sich auf unseren Halden oder schippern um die Welt, weil wir meinen, es nicht aushalten zu können, ohne ständig “auf der Höhe der Zeit” zu sein. Der größte Held dieser Zeit ist jetzt Steve Jobs, weil er uns alle Nase lang mit neuem Spielzeug versorgte.

Über den “Konsumterror” ist schon so viel lamentiert worden, dass es sich nicht lohnt, mehr darüber zu schreiben. Es lohnt aber, sich einmal vorzustellen, wie unser Leben in seiner Abwesenheit aussähe.

“Oho!”, geht der Aufschrei durch die Runde, “Arbeitslosigkeit ohne Ende!. In der Autoindustrie, im Bau, in den Gymnastiksälen, dem Tourismus, in der Elektronikindustrie und im ganzen Dienstleistungsgewerbe.” Gewiss, bloß ist diese Entwicklung so unumkehrbar wie das Gravitationsgesetz. Recht bald schon werden die neuen Industrieländer die alten bei der Technologieführerschaft eingeholt haben und jene mit ihren eigenen unnützen Spielzeugen überschütten.

Was ist eigentlich gemeint mit “Arbeitslosigkeit”? In aller Regel Einkommenslosigkeit. Während des weitaus größten Teils der Menschheitsgeschichte hatte Arbeit mit Einkommen überhaupt nichts zu tun. Arbeit war Fron oder kreative Tätigkeit für den eigenen Lebensunterhalt. Vor der Fron bräuchten wir uns im Rechtsstaat nicht mehr zu fürchten. Wir ordnen uns ihr aber freiwillig unter, indem wir – immer häufiger bis zur Erschöpfung – Tag für Tag, dreißig, vierzig Jahre lang, unter Bedingungen, die wir kaum beeinflussen können, Dinge verrichten, die uns aufgegeben werden, die uns in vielen Fällen überfordern oder langweilen und deren Nützlichkeit wir oft nicht verstehen oder nicht beurteilen können. Und wir begeben uns in diese Fron, um das Geld zu verdienen, das wir benötigen, um das Zweitauto, den Gymnastiksaal, das neue X-Pod, den Zweiturlaub auf Ibiza und die Frühstückskiwis zu finanzieren. Oder das Abendessen beim Italiener, denn das Selbstkochen der Maccaroni haben wir längst verlernt oder keine Zeit dafür.

Wäre es nicht weise, nur die halbe Zeit zu arbeiten und die andere Hälfte zur selbstbestimmten Produktion vieler der Güter und Dienstleistungen zu verwenden, die uns heute dazu verdammen, das für ihren Erwerb nötige Geld durch fremdbestimmte Arbeit zu verdienen?

Der Einwand, selbstbestimmte Arbeit sei einer Minderheit vorbehalten, den “Kreativen”, ist falsch. Jeder gesunde Mensch mit einem Mindeststandard an Erziehung, Bildung, Erfahrung und Anstand besitzt Fähigkeiten, sein eigenes Leben und das seiner Umgebung zu bereichern. Wenn es nicht so wäre, hätten sich in vorgeldlicher Zeit nicht über Jahrhunderte stabile Dorfgemeinschaften entwickeln können.

Damit soll nicht einer romantischen “Rückkehr ins Dorf” das Wort geredet werden. Auch in Städten, auch in Metropolen haben gegenseitige Hilfen und Dienstleistungen bis zur Überindividualisierung der heutigen westlichen Welt eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Und sie tun es heute noch, nicht nur in den Slums unterentwickelter Länder. Kita- und Fahrgemeinschaften, Floh- und Bauernmärkte, freiwillige Betreuer von Alten oder bildungsfernen Kindern, improvisiertes Catering und nicht zuletzt die vielfältigen Formen der Schwarzarbeit mögen ein Hinweis darauf sein.

Wenn wir nun ohnehin immer weniger werden und auch noch weniger arbeiten, woher soll der Staat dann das Geld für seine Sozialarbeit und unsere Renten nehmen?

Nun, von seiner Sozialarbeit nehmen wir ihm ja einiges ab, wenn wir unsere Freizeit kreativ und vernünftig verwenden, wie nicht Wenige das heute schon tun. Die Betreuung von Kleinkindern und Alten sollte größtenteils im Familien- und Nachbarschaftsbereich zu erbringen sein. Und bei den übrigen Leistungen – mit Ausnahme der intensiven Betreuung von Kindern aus bildungsfernen Familien – könnte es nicht schaden, den Akzent mehr auf Fordern als auf Fördern zu legen. Das sollte auch den ungeordneten Zuzug von Wirtschaftsflüchtlingen aus anderen Weltgegenden vermindern. Die (von Singapur abgeguckte) Abwesenheit sozialer Gratisleistungen hat dem spektakulären wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg Chinas keinen Abbruch getan.

Wie übrigens auch nicht das Fehlen eines staatlichen Rentensystems. Nach konfuzianischer Tradition sind es die Kinder, die sich um ihre Eltern kümmern (was allerdings dazu führen dürfte, dass die dortige Ein-Kind-Politik gelegentlich revidiert werden muss). Sei es wie es sei, auch bei uns wird eine Rückbesinnung auf die westliche Familientradition nahezu unausbleiblich sein. Kein noch so üppiges Wachstum von Geburtenzahl und/oder Produktivität (und auch die cleverste Finanzalchimie nicht) wird zukünftigen Rentnern Einkünfte bescheren können, die den derzeitigen auch nur annähernd vergleichbar sind. Familiäres Zusammenrücken wird also ohnehin wieder modern werden. Das sollte der Lebensqualität nicht abträglich sein. Wenn Bubi von Rotkäppchen nichts mehr wissen will, kann Oma ja auch das Märchen vom Roboter erzählen, der Lächeln und Streicheln gelernt hat. Und wenn die Großeltern im gleichen Haus oder um die Ecke wohnen, entfallen auch die energiefressenden und klimaschädlichen Anfahrten zum Besuch. Bedeutet unsere überbordende Mobilität denn tatsächlich mehr Erkenntnis und Genuss als Kosten und Mühsal?

Einen oder zwei Gänge zurückschalten, und die beiden –Losigkeiten verwandeln sich in höhere Lebensqualität und einen wesentlichen Beitrag zum Klima- und Naturschutz. Allerdings wäre es sinnlos, darauf zu warten, dass die Politik dies in Gang setzt. Du und ich und unsere Familien, Nachbarn und Freunde müssen damit anfangen!

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Wenn Märchen nicht mehr angesagt sind, kann die Oma ja auch Robotergeschichten vorlesen.

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