Metamorphose eines Viertels

Der “Galpón Cultural Piedra Buenarte” gibt jungen Menschen Hoffnung

Von Laura Wagener


Das Viertel “Piedrabuena” liegt im südlichen Teil der Stadt Buenos Aires, eine knappe Busstunde vom Zentrum enfernt. In Gesellschaft von Luciano César Garramuño betrete ich das ehemalige Elendsviertel und bin erst einmal beeindruckt von der Architektur des Barrios. Die riesigen, 12-stöckigen Gebäude sehen aus, als seien sie zu Stalins Zeiten errichtet. Das Viertel ist eigentlich nicht besonders groß, in etwa zehn Minuten kann man hindurchlaufen. Luciano klärt mich jedoch auf, dass etwa 20.000 Menschen in den massiven Steinblöcken wohnen. Viele der Häuser wurden nicht richtig fertiggestellt, und so leben viele der Bewohner ohne Strom und Gas.

Schnell bemerke ich, man kennt sich hier. Während Luciano mich durch das Viertel führt, gibt es niemanden, der uns nicht grüßen würde. Der 29-jährige Fotograf kommt selbst aus Piedrabuena, hat nie woanders gewohnt, und die Leute kennen ihn alle durch seine Arbeit. Er ist einer der Initiatoren des Kulturvereins “Galpón Cultural Piedra Buenarte” im Herzen des Viertels.

Das Besondere an Piedrabuena ist nämlich, dass es hier nicht nur die Wohnhäuser, sondern auch eben jenen “Galpón”, eine Art riesige Lagerhalle, gibt. Früher gab es mehrere dieser langen Hallen, die gleichzeitig mit den Wohnhäusern errichtet wurden. Alle außer der größten sind im Laufe der Zeit Materialdiebstählen zum Opfer gefallen: Menschen aus den umliegenden Elendsvierteln haben die Wellbleche und Metalle geklaut und zum Hausbau verwendet.

Der übriggebliebene Galpón war schon in der Kindheit Lucianos und seiner Freunde dort, damals lagerte noch das Teatro Colón dort seine Bühnenmaterialien. Rund um den Galpón befindet sich eine relativ große Freifläche, auf der es mittlerweile einen Spielplatz und ein Fußballfeld gibt. Früher war der Galpón umzäunt, auf dem Gelände lebten wilde Hunde. Das Viertel hatte einen schlechten Ruf, Taxifahrer aus der Hauptstadt fuhren, wenn überhaupt, nur widerstrebend in das von Elendsvierteln umgebene Barrio, es gab wenig zu tun für die jungen Leute, deswegen verfielen viele den Drogen oder dem Alkohol. Die Gewaltrate war hoch.

Das Viertel vor der Kamera

Aufmerksamkeit bekommt die Lagerstätte, als Luciano und seine Freunde eine Rockband gründen. Für ihre Liveauftritte im Barrio wollen sie eine kleine Bühne bauen, und ihnen fällt ein, dass der ganze Galpón voll mit Materialien für diesen Zweck ist. Sie verschaffen sich Zugang zum Galpón. Die dort nachlässig gelagerten Bühnenteile sind teilweise feucht geworden oder haben anderweitig Schaden genommen.

Während dieser Zeit lernt Luciano durch seinen Bruder, der gerade einen Fotokurs besucht, dessen Lehrer, den in Buenos Aires ansässigen Schweizer Fotografen Gian Paolo Minelli kennen. Sie freunden sich an, und der 1968 geborene Schweizer interessiert sich für die künstlerischen Aspekte der Gegend und den Galpón, von dem ihm Luciano erzählt. Er schießt eine Reihe von Fotos (bekannt unter “Galpón Colón”), eine weitere Serie im Viertel (“Zona Sur Barrio Piedrabuena 2001-2008”), dreht mit Luciano einige Kurzfilme und schließlich einen Dokumentarfilm. Diese Werke finden bei in- und ausländischen Zeitungen große Beachtung, und so rückt auch das bisher sich selbst überlassene Viertel auf einmal ins Zentrum des Interesses.

Etwa um 2006 herum beschließt das Teatro Colón, seinen Lagerstandort aufzulösen, und verbrennt zum Entsetzen der Jugendlichen seine Lagerbestände im Galpón. Die Jungen konnten nur einige wenige Stücke vor den Flammen retten.

Der Galpón wird belebt

Der Dokumentarfilm Minellis beginnt damit, dass Luciano durch ein Loch in der Tür in den vollgestopften Galpón späht. Er endet mit der gleichen Szene, nur ist der Galpón nun leer, und der Junge sieht wie im Traum einen Ort des sozialen Lebens, der Begegnung und des Lernens.

Aus dieser Vision wird nun immer mehr Wirklichkeit.

Nach dem Ausräumen des Galpóns begannen die Jugendlichen, ihn immer stärker für sich zu nutzen. Sie bauten die Halle aus, legten Stromleitungen, schlossen das Wasser an, lösten Dachplatten, damit Tageslicht in die Räume fallen kann, pflanzten draußen Bäume, mähten Gras, bauten Klettergerüste und legten einen Genüsegarten für die Gemeinde an.

Durch die Bilder Gian Paolo Minellis sowie Zeitungsberichte erfahren immer mehr Leute vom Galpón und seinen Möglichkeiten. So bieten etwa Künstler und Schauspieler jetzt Workshops an, um im Gegenzug dort arbeiten zu können, Architekten tauschen Arbeit gegen Arbeitsplatz, und sogar eine Krankenstation wird eingerichtet.

Das große Problem an dieser sehr schönen Entwicklung ist die Frage des Eigentums, denn eigentlich gehört der Galpón den dort Werkenden ja nicht. Allerdings weiß wohl auch niemand so genau, wem er denn nun genau gehört.

Bewaffneter Einsatz

Am 4. Dezember 2009 fahren gegen 20 Uhr fünf Busse mit bewaffneten Personen vor, die den Galpón und das Land um ihn herum einnehmen. Alle werden aus dem Galpón vertrieben, Kunstwerke zerstört, erzählt Luciano. Da er und seine Freunde mit ihrer Arbeit im Galpón nie die Absicht hatten, sich politisch zu positionieren – sie wollten den brachliegenden Ort einfach dafür nutzen, etwas Hoffnung und Zukunft in das Viertel zu bringen -, geben sie den Galpón ohne Widerstand her.

Da jedoch regt sich die Nachbarschaft, die die positive Entwicklung des Viertels durch die Arbeit im Galpón beobachtet hat und bläst zur Verteidigung “ihres” Kulturzentrums. Sie gehen gegen die Besetzenden vor, einige bewaffnet, andere unbewaffnet. Insgesamt 20 Verletzte gibt es bei den Kämpfen, die erst durch den Einsatz des örtlichen Pfarrers gestoppt werden können. Letztlich fahren die Truppen in ihren Bussen davon, und der Galpón steht wieder den Menschen von Piedrabuena frei.

Wie es weitergeht

Luciano und vier weitere junge Männer stehen jetzt an der Spitze des Kulturvereins “Galpón Cultural Piedra Buenarte”. Seit diesem Jahr sind sie ein eingetragener Verein und erhalten staatliche Förderungen für ihre Projekte. Die Kunst im Galpón hat auch auf die Wohngebiete übergegriffen, ein lokaler Graffitikünstler verschönert freie Wandflächen mit Werken bekannter Künstler. Immer mehr Leute von außerhalb interessieren sich für das Viertel und den Galpón. Längst ist der Ruf von Piedrabuena nicht mehr der, der er einmal war.

Auf die Frage hin, was die geplanten Projekte des “Galpón Cultural Piedra Buenarte” sind, kommt Luciano ins Schwärmen: “Es soll natürlich mehr Workshops geben. Dafür wollen wir mit recycelten Materialen mehr Säle und Übungsräume im Galpón errichten. Die Krankenstation soll ausgebaut werden, und dann möchten wir gerne eine Art Schule errichten. Die Leute sollen hier eine Ausbildung erhalten, um etwas aus ihrem Leben machen zu können. Und das, ohne dafür zahlen zu müssen. Das wäre wirklich unser Traum!”

Informationen zu Ausstellungen etc. und Kontakt finden Sie auf der Webseite des Kulturvereins.

Fotos von oben nach unten:
Häuserfassade mit Bühne und Galpón.

Der Galpón innen.

Aus der Vogelperspektive.

Graffiti eines Hokusai-Werks.
(Fotos: Laura Wagener)

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