Der Schwarm
Wenn der Herdentrieb die Vernunft unterläuft
Von Friedbert W. Böhm
Lange war es ein Rätsel, welche Verhaltensregeln oder Mechanismen es bewirken, dass Hunderte, Tausende von Individuen in Fisch- oder Vogelschwärmen plötzliche Richtungswechsel ausführen, als ob der Schwarm ein einziger Organismus wäre. Die Biologen haben eine recht einfache Antwort auf diese Frage gefunden: Die Evolution hat die Tiere darauf geeicht, ohne jede Überlegung jedem Individuum an der Peripherie des Schwarms zu folgen, das von der allgemeinen Richtung abweicht. Dieses Tier muss als erstes eine Nahrungsquelle entdeckt haben – die es auszubeuten gilt – oder einen Fressfeind – dem man entfliehen muss. Es ist im Interesse aller Tiere des Schwarms, diesem Ausreißer zu folgen. Heringe und Stare besitzen durchaus die Fähigkeit, selbständig Nahrung zu suchen und vor Feinden zu fliehen. Aber wenn sie sich im Schwarm befinden, agieren sie wie Schwarmtiere. Man hat die Schwarmtheorie bewiesen, indem man einem Fischchen sein Gehirnchen wegoperierte. Es schwamm sinn- und ziellos umher. Und alle anderen folgten ihm.
Der Mensch ist kein Schwarmtier. Aber wir wissen inzwischen, dass in unserem Zwischenhirn immer noch Programme aktiv sind, die dort vor einigen Hundert Millionen Jahren von fernen Vorfahren eingelagert wurden. Unser Großhirn ist in der Lage, solche Programme abzuschalten oder zu überspielen. Wenn wir es gebrauchen.
Tun wir das denn nicht immer? Sind nicht alle unsere Entscheidungen und Handlungen vom Großhirn eingegeben? Dumme Fragen, sagt der Leser, als ob wir nicht unlängst die Wichtigkeit der “emotionalen Intelligenz” entdeckt hätten! Schon richtig, aber gerade hat uns die Analyse der Finanzkrise wieder gezeigt, wie unser Herdentrieb die Vernunft unterlaufen kann.
Ja, Herdentrieb. Wenn die Freunde, Nachbarn, Idole das neue elektronische Spielzeug haben wollen, wollen wir es auch. Wenn jene den neuen Star bewundern, wird er auch für uns zum Idol. Obwohl wir eigentlich die Nützlichkeit des Spielzeugs oder die musikalischen Qualitäten des Sängers gar nicht untersucht haben. Das Zwischenhirn hat für uns entschieden.
Und wenn wir Teil einer Masse sind, welche, auf einem Platz versammelt oder vor dem Radiosender oder vor dem Fernseher den feurigen Reden eines charismatischen Artgenossen lauscht, dann kann uns der Herdentrieb ganz leicht zu Schwarmverhalten verleiten. Der oder die Redner/in begeistert uns, reißt uns mit, so unvernünftig, lügnerisch, dumm und gefährlich auch immer seine/ihre Parolen sein mögen.
Wir folgen ihm/ihr wie einem gehirnoperierten Fischlein.