Überschreiter unsichtbarer Grenzen

Ulrich Ludat, ein Saarbrücker Künstler, weilt zur Künstlerresidenz in Buenos Aires

Von Sebastian Loschert


Seit Mitte Januar streift der in Saarbrücken lebende Künstler Ulrich Ludat durch Buenos Aires. Möglich, dass der ein oder andere Leser schon auf ihn aufmerksam geworden ist. Auf ihn und seine “urbane Umherirrerei”, wie er seine künstlerische Praxis manchmal nennt, beim Fotografieren in der Straße, bei Audioaufnahmen in einer Zugstation, beim Horchen und Beobachten im Zentrum oder in den Barrios der Stadt. Rund 300 Kilometer Asphalt dürfte er in den vergangenen Wochen schon hinter sich gebracht haben, schätzt Ludat – größtenteils zu Fuß.

An dem Schnellimbiss-Tisch vor dem Bahnhof San Martín hasten die Passanten vorbei, Touristen drücken ihre Taschen enger an den Körper. Außer Ludat sitzen an diesem stark frequentierten Platz keine Europäer – nur einen Steinwurf von der Armensiedlung Villa 31 entfernt ist das den meisten zu riskant. Begeistert erzählt Ludat an dem weißen Plastiktisch, Buenos Aires biete ihm die idealen Bedingungen für seine künstlerische Arbeit, für sein urbanes Explorationsprojekt “orte.lieux.places.lugares”. Sicherlich wegen des bekanntermaßen großen Kulturangebots in dieser Stadt? Oder wegen der Unterstützung durch die Künstlerresidenz, zu der er eingeladen wurde? Weit gefehlt: “Ideal ist, dass ich die Stadt überhaupt nicht kannte und keinerlei Zeit hatte, mich auf den Aufenthalt vorzubereiten.” Ohne Vorkenntnisse will Ludat die Stadt erspüren, physisch in sich aufnehmen, sie “inkorporieren”. Nur mit Kamera und Aufnahmegerät ausgerüstet, zu Fuß oder in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Der Polizist im Polizeicontainer am Eingang der Villa 31 blickt ungläubig. Sichtlich irritiert fragt er mehrmals nach: Ob man unbedingt da rein müsse, ob man dort denn jemanden kenne, ob man nicht besser mit dem Bus die Villa Miseria umfahren wolle. Er reiht sich damit in einen warnenden Chor ein, der aus der Millionenstadt aufsteigt und zu verstehen gibt: “Für Fremde kein Zutritt. No-go-Area.” Trotzdem ist und bleibt das Ziel von Ulrich Ludat die Kapelle des 1974 ermordeten Padre Mugica am anderen Ende des über 20.000 Einwohner zählenden Elendsviertels. Wir gehen die staubige, schmale Hauptstraße entlang, an deren Rändern sich buntbemalte und unverputzte Häuschen aneinanderreihen. “Außerhalb der Villa 31 weiß kaum einer, wo die Kapelle mit dem Grab Mugicas liegt, hier drinnen jeder. Offiziell gibt es keine Straßennamen, hier drinnen sehr wohl. Es sind zwei getrennte Welten”, bemerkt Ludat. “Genau deswegen bin ich hier: Um solche unsichtbaren, aber spürbaren Grenzen in der Stadt zu erfühlen.” Angesichts der “Überlebenskunst” der Villa-Bewohner bewundert er: “Bei allen Problemen gibt es hier jede Menge Ästhetik und starke Schönheit. Mit einem Schandfleck hat das jedenfalls nichts zu tun.”

Sich-Verlieren, Langsamkeit und Körperlichkeit sind die drei Prinzipien, denen Ludat in seinen urbanen Explorationsgängen folgt. Konkret bedeutet das auch: Blasen an den Füßen. Der Künstler weiß jedoch, dass es sich lohnt, sich der Logik der Städte und Metropolen zu widersetzen: 2008 und 2009 führte er ein ähnliches Projekt schon in Tiflis, Georgien, durch. Er kam an Orte, traf Menschen, die für die Alltags- und Autoströme der Stadt unsichtbar sind. Etwa eine bizarre informelle Siedlung abchasischer Flüchtlinge, die sich in drei zwanzigstöckigen Hochhausskeletten außerhalb der Stadt notdürftig eingerichtet haben. Eine Art Delegation wurde ihm, dem suspekten Fremden, entgegengesandt, bevor er mit großer Gastfreundlichkeit empfangen wurde.

Mit einem traditionellen bürgerlichen Kunstbegriff hat seine Arbeit in Tiflis, Saarbrücken oder Buenos Aires nicht viel gemein, gibt der ausgebildete Diplom-Musiker, der sich später auch der Performancekunst zuwandte, gerne zu: “Im Grunde lässt sich gar nicht darstellen, was ich hier tue.” Dennoch: Am Ende der Entdeckungsphase will er drei besondere Orte gefunden haben, die für seinen Blick auf die Stadt stehen und will diese Orte mit je einem Foto und einer halbstündigen Audiospur einfangen. Vielleicht wird es ja der Spielplatz in der Villa 31, kurz hinter dem Siedlungseingang fast unter die Schnellstraße geduckt, um die Mittagszeit voller Kinderlärm und Elterntratsch.

Ludat arbeitet an seinem Projekt im Rahmen einer Künstlerresidenz. Als erster Deutscher hat er eine solche Einladung von der unabhängigen und nichtkommerziellen Kunststiftung ‘ace aus Buenos Aires bekommen. Das Residenz-Programm hat die Künstlerin und Kuratorin Alicia Candiani 2005 aus der Taufe gehoben, seitdem machten schon 40 Künstler von Tasmanien bis Alaska in der rundum renovierten Casona im Stadtteil Colegiales Halt. Auf die Idee kam Candiani durch ihre eigenen Erfahrungen in Künstlerresidenzen in China, den USA, Kanada, Europa und Lateinamerika – und profitiert noch heute von ihrer “Doppelexistenz” als Künstlerin und Stiftungsdirektorin: “Man nimmt überall einige Ideen mit, ändert im eigenen Projekt hier und dort etwas”, erklärt sie, während sie in der Küche im ersten Stock Kaffee anbietet. Ulrich Ludat stimmt ihr zu: “Alicia weiß aus eigener Erfahrung genau, was die Künstler brauchen.” Neben der Küche – für das gemeinsame Mittagessen von großer Bedeutung – ist die Stadtvilla unter anderem mit einer Werkstatt inklusive Druckerei, einem Fotostudio, einem Ausstellungsraum und einer kleinen Kunstbibliothek ausgestattet.

“Uns ist wichtig, dass die Künstler in Kontakt mit der Stadt kommen”, fährt die Direktorin fort. Deshalb würden die eingeladenen Künstler mitten im Zentrum wohnen, einige Kilometer vom Stiftungsgebäude entfernt. Diese Philosophie ist ganz im Sinne des Saarbrückers, der in Retiro eine Zwei-Zimmer-Wohnung zur Verfügung gestellt bekam: “Ich bin froh, dass sie mich in eine eigene Wohnung gesteckt haben. In dem Haus genieße ich eine ganz normale Wohnsituation, man bekommt da alles von den Nachbarn mit. Ich bin mitten im südländischen Leben,”

Grenzen finden, Grenzen in Frage stellen. Zur Kapelle am anderen Ende der Villa 31 fanden wir im Übrigen dank der durchweg freundlichen Barrio-Bewohner. Im angrenzenden Anwesen, einem Hort für Kinder drogenabhängiger Eltern, wurden wir spontan zum Pizzaessen eingeladen. Eine dort ehrenamtlich arbeitende Helferin erzählte, mit ihrem Blackberry-Handy in der Hand, sie durchquere seit Jahren die Villa, ohne dass ihr je etwas zugestoßen sei.

Wer wissen will, welche drei Orte Ulrich Ludat letztlich ausgewählt hat, kann die Präsentation seiner Fotos und Audioaufnahmen mit Künstlergespräch besuchen. Am Donnerstag, dem 1. März, ab 17 Uhr in der Conesa 667, Colegiales. Um vorige Anmeldung (info@proyectoace.org) wird gebeten.

(Foto: Adriana Moracci)

Un comentario sobre “Überschreiter unsichtbarer Grenzen”

  1. Alicia CAndiani dice:

    Gracias Sebastian¡


Escriba un comentario