“Erkennen, erfassen, bewahren”

Ein Projekt des Moses Mendelssohn Zentrums widmet sich dem deutsch-jüdischen Erbe auf der ganzen Welt

Von Mirka Borchardt


“Warum, so fragt man sich, ist ein solches Projekt nicht schon früher gestartet worden?” Mit diesen Worten leitete Botschafter Günter Rudolf Knieß am Dienstag die Vorstellung eines ambitionierten globalen Projekts zum jüdischen Kulturerbe ein: German-Jewish Cultural Heritage (GJCH) heißt das Projekt, und sein Vorhaben klingt in der Tat so einleuchtend, dass die rhetorische Frage des Botschafters mehr als berechtigt scheint. Als “Spurensuche” beschreibt Dr. Elke-Vera Kotowski vom Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ), maßgebliche Initiatorin des Projekts, dieses Vorhaben: Spuren des deutsch-jüdischen Kulturerbes weltweit sollen gesucht, gesammelt, systematisiert, zusammengefasst und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

In einer jahrhundertelangen Geschichte der Emigration deutscher Juden ist deren kulturelles Erbe in alle Welt verstreut worden – nicht nur das materielle, nicht nur Gegenstände des täglichen und des religiösen Lebens, sondern auch das immaterielle: Traditionen, Wissen, Geschichten, Gewohnheiten. Häufig hat sich diese Kultur mit der des Aufnahmelandes vermischt, doch ist die eine nicht einfach in der anderen aufgegangen: Auch die Kultur des Aufnahmelandes veränderte sich durch die Neuankömmlinge und deren mitgebrachtes Kulturgut.

Diesen wechselseitigen Einflussnahmen nachzugehen, das ist eines der Ziele des GJHC. Ein anderes ist, die schon bestehenden zahlreichen Vereinigungen und Organisationen weltweit, die zu ähnlichen Themen arbeiten, zu vernetzen. Das Wissen, das heute schon besteht, ist nicht unerheblich, aber fragmentarisch und über den Globus verteilt. Die Einrichtungen arbeiten unabhängig voneinander, teilweise wissen sie gegenseitig nicht einmal von ihrer Existenz. Über das GJCH können sie miteinander in Kontakt treten und einen Austausch beginnen, können sich mit Kollegen auf der anderen Seite des Ozeans beraten und Dokumente vom anderen Ende der Welt einsehen, das ist die Vision von Kotowski und ihren Mitarbeitern.

Auf der Internetseite des Projekts (siehe unten) findet man eine interaktive Weltkarte, klickt man die einzelnen Länder an, werden alle Organisationen des jeweiligen Landes aufgelistet, die zum Thema deutsch-jüdisches Kulturerbe arbeiten. Daneben soll eine Datenbank angelegt werden, auf der Briefe, Tagebücher, Dokumente, Ausweise und andere Primärquellen in digitalisierter Form zu finden sein sollen. Damit sie nicht nur einer kleinen Minderheit von Wissenschaftlern zur Verfügung stehen, sondern allen Interessierten, auch und vor allem Jugendlichen, die mit audiovisuellen Mitteln mittlerweile mehr anzufangen wüssten als mit Büchern, so Kotowski.

Auf diese Weise will das GJHC auch einen anderen Zweck erfüllen: “Häufig sind wahre Schätze auf Dachböden oder in Kellern versteckt, und die Menschen wissen nicht, wohin damit”, sagt Kotowski. “Wir bieten ihnen eine zentrale Anlaufstelle.” Sie berichtet von einem Mann in den Vereinigten Staaten, der auf seinem Dachboden den Briefwechsel einer in Wien lebenden Frau und ihres in die Staaten ausgewanderten Sohnes fand: 20 Jahre lang, von 1926 bis 1956, schrieben sich die beiden Briefe. Nicht nur von den großen und kleinen Ereignissen des Alltags erfährt man darin, sondern auch vom Prozess der Identitätswandlung des Sohnes, von der Mutter, die in Wien den aufkommenden Nationalsozialismus miterlebt und schließlich selbst auswandert – und deren Identität als deutschsprachige Jüdin damit ebenfalls arg erschüttert wird. Diese Geschichte(n) im Kleinen zu berichten, nicht nur die Geschichte großer Männer, das ist ein anderes Ziel der Wissenschaftlerin und ihres Teams.

Noch steckt das Projekt freilich in den Kinderschuhen: Bisher sind die auf der Internetseite aufgelisteten Organisationen nur wenige, die Datenbank ist noch in Entwicklung, und auch die Veröffentlichung des geplanten Handbuchs mit Beiträgen von 50 internationalen Wissenschaftlern wird noch dauern. Ein Haufen Arbeit ist das alles, aber die GJCH-Organisatoren haben allen Grund zur Hoffnung. Bei der Vorstellung des Projekts in der deutschen Botschaft in Buenos Aires am Dienstag sagten die jüdische Forschungsstiftung Fundación IWO und die AMIA (Asociación Mutual Israelita Argentina) spontan ihre Unterstützung zu, so angetan waren sie von der Idee.

Um auf die berechtigte Anfangsfrage zurückzukommen: Warum also gab es ein solches Projekt nicht schon früher? Weil es, so beantwortet die Frage ein Zeitzeuge aus dem Publikum, vielleicht so lange gebraucht habe, bis sich die Exiljuden mit ihren deutschen Wurzeln hätten aussöhnen können. Umso mehr darf man nun froh sein, dass die Zeit anscheinend reif ist.

Für weitere Informationen und Anfragen siehe die Webseite des Projektes.

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