Geschichte(n) aus dem Koffer
Gabriel Groszman präsentiert sein neuestes Buch in der Pestalozzi-Schule
Von Mirka Borchardt
Das Auditorium der Pestalozzi-Schule im Buenos Aires-Stadtteil Belgrano ist fast voll. Keine Selbstverständlichkeit bei diesem Thema – um eine steile These zu wagen: In Deutschland wäre der Saal nicht einmal zur Hälfte besetzt. Doch hier in Argentinien ist das Thema von anderer Brisanz: Die Verfolgung von Juden in Deutschland unter der Nazi-Herrschaft, die Flucht ins Exil, das Schicksal der Daheimgebliebenen, darum soll es heute Abend gehen. Viele der Anwesenden, die der Einladung der Asociación Filantrópica Israelita, der Kulturabteilung der Pestalozzi-Schule und des Goethe-Instituts gefolgt sind, könnten eigene Erinnerungen beisteuern, könnten von der eigenen Erfahrung im argentinischen Exil oder der Verfolgung ihrer Eltern im von den Nazis besetzten Europa berichten.
Entsprechend bewegt ist die Atmosphäre im Saal, als aus dem Buch gelesen wird. “Ein Koffer auf dem Dachboden” erzählt von der Geschichte der jüdischen Familie Uffenheimer aus Breisach in Baden. Der Fund eines Koffers voller alter Dokumente auf dem Dachboden eines verstorbenen Familienmitglieds in Argentinien war Anlass für Gabriel Groszman, sich in eine detaillierte Recherche zu stürzen, kaum dass sein erstes Buch “Als Junge in Ungarn überlebt” (2009) erschienen war. Ausführlich berichtet der ältere Herr vorne auf der Bühne vom Entstehungsprozess des Buches, und man kann nur staunen angesichts der Energie und Geistesgegenwart, die er sich trotz der Schicksalsschläge im eigenen Leben offensichtlich bewahrt hat.
In dem Koffer fand Groszman unter anderem den vollständigen Briefwechsel Semi Uffenheimers mit seiner Schwester Flora, die zusammen mit den Eltern in Deutschland geblieben war. Regelmäßig informierte sie Semi über die schrittweise Verschlechterung der Lebenssituation der Familie. Es ist totenstill im Auditorium, als Rudolf Barth, ehemaliger Direktor des Goethe-Instituts Buenos Aires und Übersetzer des ersten Buchs von Groszman, aus diesen Briefen liest. Flora erzählt darin, wie es den Eltern Tag für Tag schlechter geht im Gefangenenlager in Südfrankreich, dass sie kaum zu Essen haben, dass sie jeden Tag ums Überleben kämpfen. Bis eines Tages keine Briefe mehr kommen. Flora ist nach Auschwitz abtransportiert worden, und sie wird nicht mehr zurückkommen.
Befreiender wirken da die Passagen, die die Verlegerin Graciela Komerovsky vorliest. Auch im Schrecken gab es noch einen Alltag, zeigen diese: Er solle doch endlich heiraten, rät Flora ihrem Bruder, und anscheinend nimmt er sich den Auftrag zu Herzen: In einer Kontaktanzeige im Argentinischen Tageblatt sucht ein “Junggeselle, jüdisch, mittelgroß, selbständig”, die “Bekanntschaft eines patenten netten Mädchens bis 32 Jahre, zwecks späterer Heirat”. Gefruchtet haben sie leider nicht.
Tomás Abraham, selbst Kind rumänisch-jüdischer Flüchtlinge, Literat und Philosoph, übernimmt schließlich den theoretischen Part des Abends. Über die Erfahrung der Exilierten in Argentinien redet er, über den Prozess der Identitätsbildung und über den Begriff “Überlebender”, den er ablehnt. Nicht um diesen Begriff zu verstärken, nicht um die Immigranten als Opfer zu stilisieren, müssen ihre Geschichten immer wieder erzählt werden, sagt er, sondern um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Vielleicht können Veranstaltungen wie diese dabei helfen.
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Der Autor weiß, wovon er schreibt: Auch er kam als jüdischer Flüchtling nach Argentinien.