Auf den Spuren des Täters – 60 Jahre danach

Gisela Heidenreich recherchierte für ihr neues Buch auch in Argentinien

Von Sebastian Loschert

Wer war Horst Wagner? Hoher SS-Offizier im “Dritten Reich”, ab 1943 Leiter der für “Judenangelegenheiten” zuständigen Gruppe “Inland II” im Auswärtigen Amt, persönlicher Verbindungsmann zwischen Ribbentrop und Himmler, zwischen Auswärtigem Amt und SS. Lange Zeit eine kaum beachtete Schlüsselfigur in der Organisation des Holocaust. Dann aber auch: Der Mann, dem die Mutter von Gisela Heidenreich Nacht für Nacht am Münchner Esstisch lange Liebesbriefe nach Südamerika schrieb. Für den die Mutter in den mageren Nachkriegsjahren das Geld auf die Seite legte und am Essen für die Tochter sparte. Der Mann außerdem, dessen Name auf der geschenkten Schulmappe stand, die die Autorin bis zum Abitur benutzte.

Wie in ihren vorherigen Büchern steht in “Geliebter Täter” die persönliche Betroffenheit von Gisela Heidenreich am Ausgangspunkt ihrer Nachforschungen. Zum dritten Mal spielt ihre Mutter Emmi eine Hauptrolle, zum dritten Mal wagt Heidenreich den Spagat zwischen persönlicher und politischer Aufarbeitung. Wie in “Sieben Jahre Ewigkeit” dienen hunderte Briefe als Zeugnisse der geheim gehaltenen Liebe ihrer Mutter. Diesmal aber will die Tochter den “geliebten Täter” Horst Wagner genauer unter die Lupe nehmen. Wie sah seine Stellung im Auswärtigen Amt aus? Wie konnte er flüchten und trotz Haftbefehl in Südamerika untertauchen? Wieso wurde er nach seiner Rückkehr nie verurteilt?

Diese Fragen sind ihr Reisen nach Frankreich, Italien und Argentinien wert. Wenn sich vor einem italienischen Landgut wieder eine Spur verliert, schreibt sie trotzig: “Ich werde noch einige Türen öffnen, Herr Wagner.”

Und Heidenreich öffnet viele Haustüren, Ordnerdeckel und Aktenschränke, um Horst Wagner kennenzulernen. Ausgiebig wird seine steile Karriere im diplomatischen Dienst in Berlin erforscht. Die gelingt ihm trotz fehlender diplomatischen Ausbildung dank SS- und Parteimitgliedschaften. Detailreich wird die Arbeit Wagners in der Behörde nachgezeichnet: Von der Organisation antijüdischer Propagandaaktionen bis zur Empfehlung an Ribbentrop, die “unverzügliche Ausmerzung aller Juden in den von uns besetzten Gebieten” sei unumgänglich.

Danach scheut die Autorin keine Mühen, die verworrenen Pfade der Flucht Wagners nachzuzeichnen. Wie viele andere Naziverbrecher wählte er kurz vor dem Haftbefehl 1948 die “Rattenlinie” über Österreich und Südtirol nach Italien, fand Gastfreundschaft in Almhütten, Hotels und Klöstern, lebte schließlich mehr als zwei Jahre bei einer “deutschfreundlichen” – lies faschistischen – argentinischen Duquessa in einem Palazzo in Rom, bevor er mit Hilfe des Vatikans den begehrten Rotes Kreuz-Pass für die Ausreise nach Südamerika ausgestellt bekam. Kommunist war er schließlich keiner. Unter dem Namen “Peter Ludwig” reiste er 1951 von Genua nach Peru, kurz darauf fand er in Chile “wirkliche Freunde”, wie er schwärmte, bevor er noch im selben Jahr nach Argentinien kam.

Gisela Heidenreich reist rund 60 Jahre später hinterher. Sie trifft sich in Buenos Aires mit Botschafter Schumacher, erhält dort aber keine Antwort darauf, wie Wagners IRK-Pass in der deutschen Botschaft in einen gültigen Reisepass verwandelt werden konnte. Sie trifft sich mit Unterstützern von Opfern der Naziverfolgung, mit dem Historiker Uki Goñi, der geflohenen Jüdin Margot A., die im Viertel Belgrano fast Nachbarin von Wagner war oder mit Schriftsteller Robert Schopflocher, der über die Atmosphäre des idyllischen Belgrano der 1950er Jahre erzählt. Heidenreich sucht alte deutschtümelnde Kneipen auf und schaut sich in Bariloche um.

Die Stärke des Buches, detailreiche Informationen mit Reportage-Elementen zu verbinden, erweist sich in Argentinien, wo die Spuren Wagners bereits verblasst sind, leider als eine Schwäche. Dort lässt die Autorin ihrer Phantasie zu viel Lauf: “Vielleicht” besuchte Wagner das seit 1936 unveränderte Wirtshaus “Zur Eiche” in Vicente López und traf dort seinen Ex-Kollegen Eichmann. “Vielleicht” verbrachte Wagner Weihnachten 1951 auf derselben Estancia nahe Bariloche, wo auch Heidenreich recherchierte.

Diese Lückenfüller diskreditieren allerdings nicht die äußerst gewissenhafte und engagierte Arbeit, die Heidenreich auf den restlichen über 300 Seiten ausbreitet. Immer wieder wird der Fall Wagner in einen größeren Kontext eingebettet: Wie gelang den Naziverbrechern die Einwanderung nach Argentinien? Wie trug das Auswärtige Amt zum Holocaust bei? Einen Grund, das umfangreiche Buch bis zu Ende zu lesen, bieten andererseits auch die schwülstigen Passagen aus den Liebesbriefen, die im herben Kontrast zu Wagners Rolle im industriellen Massenmord wenige Jahre zuvor stehen. “Erfüllung und Vollendung meines Lebens”, nennt Emmi ihren Horst, oder “Du mein geliebtes Ich”. “Mein liebstes, über alles geliebtes Herz”, schreibt Wagner zurück. Er fordert aber auch: “folgsam sein und an das Schöne, das kommt, denken”.

Dass nach Wagners Rückkehr nach Europa im Mai 1952 und nach Deutschland 1956 “das Schöne” für das Paar dann nicht mehr kam, lag nicht an der deutschen Justiz. Denn es gelang Wagner, jahrelang unbehelligt zu leben und sein Gerichtsverfahren bis zu seinem Tod 1977 zu verschleppen. Der Grund war vielmehr, dass der “Womanizer” 1957 dann heimlich eine andere heiratete, anstatt mit Emmi “in aller Ewigkeit Hand in Hand zu bleiben”, wie jahrelang versprochen. Der Schreibtischtäter scheiterte am Ende auch im Privaten.

Wer historische Informationen in der “leichteren” Form eines investigativen Romans lesen möchte, erfährt in “Geliebter Täter” die lesenswerte Geschichte eines Naziverbrechers im Auswärtigen Amt.

  • Gisela Heidenreich: “Geliebter Täter. Ein Diplomat im Dienst der ‘Endlösung'”. Droemer Verlag, München 2011, 352 Seiten, 22,99 Euro.

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