Die Ausgewogenheit von Form und Inhalt

Rafael Spregelburds “Apátrida” am Teatro El Extranjero

Von Mirka Borchardt


“Hört, ihr Sterblichen! Den geheiligten Ruf: Freiheit, Freiheit, Freiheit!” Die Melodie der argentinischen Nationalhymne zerreißt die erwartungsvolle Stille im Theatersaal. Feierlich, dramatisch, fast pathetisch. Doch plötzlich schreddert die Schallplatte vorne auf der Bühne, wird langsamer, die Melodie verzerrt sich. Ein unsichtbarer DJ versucht sich offensichtlich an einer neuen Hymnenversion, oder er ist von profaner Zerstörungswut getrieben. So programmatisch wie der erste Satz eines Romans ist der Beginn dieses Theaterstücks.

“Apátrida. Doscientos años y unos meses” spielt im Jahr 1891: In der Straße Florida findet eine Ausstellung statt, die – nach den Worten Eduardo Schiaffinos – zeigt, “dass auch Argentinien schon einige hervorragende Maler besitzt”. Schiaffino, der spätere Gründer des “Museo Nacional de Bellas Artes”, selbst mit eigenen Bildern in der Ausstellung vertreten, ist einer der größten Befürworter der Begründung einer “nationalen Kunst”. Der spanische Kunstkritiker Maximiliano Eugenio Auzón findet diese Idee schlicht lächerlich. “Argentinische Kunst wird es in 200 Jahren und ein paar Monaten geben!”, konstatiert er sarkastisch.

In einem Briefwechsel zwischen Künstler und Kritiker erhitzen sich die Gemüter. Ein immer polemischer werdender Streit entwickelt sich – nicht nur um die Frage nach der Rolle der nationalen Identität in der Kunst, sondern auch um die Frage nach staatlicher Unterstützung, die Schaffung eines Kunstmarktes, die Rolle von Kunstsammlern. “Die Kunst hat kein Vaterland!”, ruft Auzón voller Pathos. “Das ist eine leere Aussage”, erwidert Schiaffino trocken.

Auzón und Schiaffino, beide gespielt von Rafael Spregelburd – nebenbei auch Autor und Regisseur des Stückes, das gefördert wird vom Goethe-Institut, der Stiftung Pro Helvetia und der Schweizer Botschaft – liefern sich ein verbales Gefecht, das am Ende in einem bewaffneten endet. Begleitet von den experimentellen Tönen des Klangkünstlers Federico Zypce, duellieren sie sich am Weihnachtsmorgen 1891. Der eine wird später als Vater der argentinischen Nationalkunst bekannt sein, den anderen wird kein Mensch mehr kennen. “Kein Vaterland feiert seine Staatenlosen”, prophezeit Auzón.

Eine einigermaßen ungewöhnliche Idee, diese heute fast völlig unbekannte Diskussion zwischen Auzón und Schiaffino auf die Bühne zu bringen. Noch ungewöhnlicher ist die Umsetzung der Idee, die immerhin zehn Jahre lang in dem preisgekrönten Dramaturgen und Schauspieler gärte. Lange brauchte es also, bis Spregelburd die richtige Form fand. Ein Zwei-Mann-Stück ist das Ergebnis des Gärungsprozesses. Zwei Mann deswegen, weil Zypce, die musikalische Begleitung, wenn man so will, Teil des Geschehens auf der Bühne ist, in einem unkonventionellen Studio aus seltsamen Instrumenten, die ungewöhnliche Klänge erzeugen und damit einen Kontrapunkt zum Schauspiel bilden. Während Spregelburds Gestus und Kostüm der gespielten Zeit entsprechen, sind die Töne Zypces ein Gemisch aus ge-remixten Klassikern und elektronisch erzeugten Klängen – eindeutig postmodern, fast schon postpostpostmodern. Ein Schauspiel für die Ohren, das auch ohne die brillante Darstellung Spregelburds funktionieren würde.

Eine ungewöhnliche Idee, aber eine geniale. Nicht nur, weil man die Gegenstände der Auseinandersetzung auch im Heute wiederfindet. Nicht nur wegen der aufgeworfenen Fragen, was das gespaltene Verhältnis der Argentinier zu ihrer nationalen Identität angeht, was das Verhältnis zwischen Künstler und Kritiker, was die Funktionsweise des Kunstmarkts betrifft. Tatsächlich wäre es zu simpel, dieses Stück als Auseinandersetzung mit diesen Fragen zu beschreiben. Genial ist die Idee wegen der Kombination dieser Fragen mit deren Inszenesetzung. Oder anders gesagt: wegen des idealen Verhältnisses von Inhalt und Form.

  • Samstags, 20.30 Uhr, Theater “El Extranjero”, Valentín Gómez 3378, Buenos Aires. Eintritt $60/40.

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Eine überzeugende Kombination: Zypce und Spregelburd.

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